Valentin Serov, Peter I on the Neva Embankment, 1907, gouache on cardboard, State Tretyakov Gallery, Moscow, Russia
Global Look PressZar Peter I. 1717 bei einer Audienz bei Louis XIV. in Versailles / Vostock-Photo
Peter der Große verwandelte das „pfäffische Russland“ bekanntermaßen nicht nur in eine Großmacht, sondern auch in einen weltlichen Staat der Hochkultur. Der Zar, der selbst einst Frankreich und Holland bereist hatte, um Erkundungen über die europäischen Gesellschaften einzuholen, zwang die russischen Bojaren, ihre mittelalterlichen Gewänder und Gepflogenheiten abzulegen - und stattdessen zu Messer und Gabel zu greifen.
Um der Allgemeinheit nahezubringen, wie man sich in der Gesellschaft zu benehmen hat, musste ein verbindlicher Leitfaden geschaffen werden. Diese Aufgabe übernahm das auf Geheiß des Zaren verfasste Kompendium „Der Jugend ehrwürdiger Spiegel“. Das vor 300 Jahren veröffentlichte Buch besteht aus zwei Teilen: Teil 1 umfasst ein Regelwerk über das richtige Lesen und Rechnen, Teil 2 ist der Etikette gewidmet.
Die ersten Zeilen des „Spiegels“ widmeten seine Verfasser der Achtung gegenüber Vater und Mutter. „Den Anweisungen der Eltern gebührt großer Respekt, sie sind in der Beflissenheit eines Pagen oder Dieners zu befolgen“, lehrt das Buch. Die Eltern, denen der Adelige oft seinen Erfolg und seine gesellschaftliche Stellung verdankt, sollten unanfechtbare Autoritäten darstellen. Peter ließ jungen Menschen empfehlen, in Anwesenheit älterer Menschen „zu schweigen, solange man nicht gefragt wird“ und sie nur mit großer Achtung anzusprechen.
Der „Spiegel“ schreibt den Adeligen aber auch vor, ihre Feinde zu achten, sie nicht in Verruf zu bringen und die feindselige Gesinnung ihnen gegenüber nicht offen zur Schau zu stellen. „Über Feinde ist in Abwesenheit immer anerkennend zu sprechen, in ihrer Gesellschaft verhalte dich respektvoll und hilfsbereit. Über Verstorbene sollst du nicht schlecht reden“, unterweisen die Verfasser ihre Leser unnachgiebig.
So sollten die Familienbande nicht aussehen, wenn es nach dem Benimm-"Spiegel" geht. Nikolai Ge (1831-1894): "Peter der Große befragt Zarewitsch Alexej in Peterhof",1871. Staatliche Tretjakow-Galerie in Moskau / RIA Novosti
Peter empfiehlt eine maßvolle Selbsteinschätzung, wenigstens in der Öffentlichkeit: „Lobe dich niemals selbst und spreche nicht herabwürdigend über dich“. Er empfiehlt, sich seiner Abstammung nicht zu rühmen, selbst wenn sie angesehen und namhaft ist – schließlich ist sie nicht der eigene Verdienst. „Man sollte auf die Würdigungen anderer warten.“
Selbstverständlich findet sich in der Richtlinie auch ein Rat nach des großen Dichter Alexander Puschkins „Arbeiter auf dem Thron": ein gesonderter Abschnitt zum Thema Arbeitsamkeit. „Ein junger Adeliger sollte rege, arbeitsliebend, tüchtig und rastlos sein wie ein Pendel in einer Uhr“, heißt es in dem Lehrbuch. Die Autoren sind davon überzeugt, dass ein beflissener Adelsmann sich auch einer fleißigen Dienerschaft sicher sein kann. Auf einem solchen Boden werde Russland wachsen und gedeihen.
In einem vor allem jungen Mädchen gewidmeten Kapitel des „Spiegels“ betonen die Verfasser des Lehrwerks mehrfach die Bedeutung eines keuschen Lebens vor der Ehe. Voller Abscheu beschreiben sie das Verhalten „ehrloser Mädchen“: „Mit jedem scherzt und redet sie, läuft durch die Straßen, setzt sich zu fremden Männern, singt unzüchtige Lieder. Sie amüsiert und betrinkt sich, springt über Tische und Bänke." Was heute der Beschreibung eines Absolventenballs entnommen sein könnte, galt im 18. Jahrhundert als unschickliches Benehmen.
Die Belehrungen des „Spiegels“ lassen auch darauf schließen, dass es um die Tischsitten bei den Angehörigen des russischen Adelsstandes zu Beginn des 18. Jahrhunderts nicht besonders gut bestellt war. „Bediene dich nicht als erster am Tisch, friss nicht wie ein Schwein“, mahnt der Zar. „Nimm zuletzt, wenn man dir die Speise angeboten hat, aber nur eine kleine Portion, den Rest überlasse dem Tischnachbarn." Die Liste der Verbote ist lang: Ein Adeliger darf sich nicht die Finger ablecken, keine Knochen abnagen, sich nicht mit der Hand den Mund abwischen, sich nicht kratzen, nicht schlürfen und nicht schnauben.
/ Staatliches Historisches Museum
Alkohol dagegen verbietet Peter, der in seinen jungen Jahren selbst Trinkgelagen nicht abgeneigt war, nicht. Er empfiehlt jedoch der Höflichkeit wegen, „zunächst abzulehnen, wenn Getränke angeboten werden, und sie danach mit einer Verbeugung anzunehmen“. Missbräuchlicher Konsum ist natürlich untersagt.
Ob Peter der Große heute in Moskau auch noch das Benehmen der Russen überwacht? / Elena Larionova
Die im 18. Jahrhundert verbreiteten Vorstellungen von Anstand unterscheiden sich deutlich von den heutigen. „Steht oder sitzt eine Gesellschaft im Kreis“, lehrt Peter, „sollte niemand in die Mitte spucken, nur nach außen …“. Allgemein gilt es den Regeln des „Spiegels“ zufolge, wenn gespuckt wurde, die Spuren dieser Handlung so gut es geht zu verwischen: Man sollte sie zum Beispiel mit dem Fuß verteilen oder direkt in ein Tuch speien und dieses unbemerkt aus dem Fenster werfen.
Mit Nachdruck schreibt Peter außerdem vor, nicht zu schniefen, „den Schnodder durch die Nase hochzuziehen und danach zu schlucken“. Ein Adeliger sollte sich stattdessen schnäuzen, allerdings so leise wie möglich. Vollkommen unstatthaft ist es dem „Spiegel“ zufolge, sich die Nase zu putzen, als würde man in eine Trompete blasen, und damit kleine Kinder zu erschrecken.
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