Auf dem Cafétisch stehen Martini-Gläser, Besteck und Servietten. Daneben fünf geladene Revolver. Seit zweieinhalb Jahren treffen sich hier in Perm im Ural aller zwei Wochen Menschen, die Russisch Roulette spielen wollen – allerdings mit teilweise erneuerten Regeln.
Gespielt wird grundlegend nach den traditionellen Regeln: In die leere Revolvertrommel wird eine Patrone geladen, dann wir die Trommel gedreht. Dann greifen die Spieler reihum zu Whisky und Revolver, trinken, halten sich die Waffe an die Schläfe und drücken ab. Eine wichtige Neuerung aber hat Walerij Jeschtschenko, selbst Impulse abgibt. Die Schüsse, so sagt er, verursachen nun „nur“ noch ein unangenehmes Gefühl, wie ein schlagartiger Blitz, die Muskeln zucken. Die Herausforderung für die Spieler liegt nun darin, sich nicht anmerken lassen, dass sie Pech und die E-Patrone im Revolver erwischt haben. Sieger ist, wer am meisten Glück hat oder am meisten aushält.
Nicht nur im Revolver ist die Spannung groß, sondern auch im Spielraum. Namen und Spitznamen sind im Spiel Tabu, die Spieler bekommen Nummern. In der ersten Runde schießt jeder Spieler seinem Nachbarn in den Nacken, während sich im Revolver zwei vier leere und zwei Elektropatronen befinden.
„Drei, zwei, eins!“ – und alle Spieler drücken gleichzeitig ab. „Alle leben!“, kommentiert der Spielleiter.
Wieder werden die Revolvertrommeln gedreht. „Drei, zwei, eins“ – und wieder „Schuss!“ So geht es fünf Mal, bis bei dem ersten Spieler die Schultern zucken. Er ist ein Pechvogel: Bei allen vier vorherigen Schüssen hat er einen Schlag bekommen, beim fünften nun konnte er sich nicht mehr zusammenreißen. Er zuckte, das heißt getroffen – und raus.
Jakow Charisow ist zum achten Mal hier beim Russisch Roulette. Der schlimmste Moment sei, so sagt er, noch nicht einmal der Schuss selbst, sondern der Countdown davor. „Da fließt das Adrenalin und du versuchst zu raten, gibt es einen Schlag oder nicht? Du überlegst, wie du dich am besten kontrollieren kannst“, erzählt Charisow. „Manchmal geben die Nerven nach und ein leerer Schuss ‚triff‘ dich härter als einer mit Schlag.“ Um den Nervenkitzel noch zu erhöhen, ergänzt er, erhöhten die Spieler in letzter Zeit auch immer wieder die Stärke der elektrischen Impulse. Dadurch wird es immer schwieriger, sich noch zu kontrollieren und nicht zu zucken.
„Ich will auch mal einen Mann töten!“, ruft die junge Jekaterina Abysowa in der zweiten Runde unter dem Titel „Dreiecksbeziehung“. Dabei stehen zwei Männer und eine Frau im Dreieck. Jeder zielt auf seinen rechten Nachbarn. Sofort zerfällt das „Liebesdreieck“, denn die Frau zuckt, spannt die Arme an und ruft laut auf. Damit ist sie „gestorben“ und verlässt das Spiel. Am unangenehmsten, so sagt sie, seien Schläge im Bereich der Halsschlagader, weil sie dort die Nackenmuskeln treffen. Schläge am Arm oder auf die Stirn seien leichter „zu verstecken“.
Direkt nach einem solchen Schlag, erläutert Spielgründer Jeschtschenko, verfalle der Spieler in eine Art leichten Schock. Darauf jedoch folge ein geradezu euphorisches Glücksgefühl. „Nach dem Spiel hat man ein Gefühl wie nach einem Zehn-Kilometer-Lauf“. sagt er. „Du bist total ausgelaugt, aber bist gleichzeitig Stolz auf jeden ‚versteckten‘ Schuss. Unser Russisch Roulette ist darum fast schon eine Art Sport.“
Jeschtschenko war einmal Sportler, bis er ein schweres Koma überlebte. Heute ist er schwer gelähmt. als Unifight-Trainer hatte er so keine Chance mehr. „Im Grunde brauchte mich plötzlich niemand mehr“, erinnert er sich. „Einmal bin ich umgefallen und lag da zwei Stunden am Boden, bis mich jemand aufhob.“
Am Ende war es der Elektroschocker, der Jeschtschenko half, sich weitgehend von der Lähmung zu befreien. Nur die Finger und Zehen kann er noch immer nur eingeschränkt bewegen. Dass seine Stimme immer wieder bricht, als habe er eine chronische Angina, ist eine Folge des Komas.
„Am Anfang bat ich Bekannte, mir mit dem Schocker elektrische Schläge zu versetzen. Später lernte ich dann schon wieder, selbst die richtigen Knöpfe zu drücken“, erzählt er von seinen Erfahrungen. „Meine Muskeln wurden langsam wieder lebendiger. Ich tat mir zwar weh, die Empfindungen aber waren andere: Schock und angenehmes Durchschütteln. Dann überlegte ich, wie man es organisieren könnte, dass Menschen ein solches Zucken zufällig erleben können.“
Entgültig formierte sich seine Russisch-Roulette-Idee dann, als er den Film „13“ schaute, in dem der Protagonist dank Russisch Roulette unglaublich reich wird. Jeschtschenko begann zu wetten. Mit dem gewonnenen Geld entwickelte er dann gemeinsam mit einem befreundeten Ingenieur die neuen E-Schock-Revolver und ließ sich die Erfindung patentieren.
„Das ist eine einzigartige Art von Waffe“, ist Jeschtschenko überzeugt. „Das ist keine Druckluftwaffe, keine Pistole und kein einfacher Elektroschocker, weil sie nur 0,1 bis 0,3 Watt stark ist“. Unsere Waffe ist einfach ein Spielzeug für Erwachsene.“
Das erste „neue“ Spiel in Russisch Roulette fand vor über zwei Jahren in einem kleinen Sportraum statt. Mittlerweile sind die Spieler in ein Café umgezogen. Um die 20 Personen nehmen regelmäßig Teil, Teilnehmer zahlen umgerechnet etwa sieben Euro, für Zuschauer ist der Eintritt frei.
Jeschtschenkos Haupteinnahmequelle jedoch ist der Revolververkauf. „Ein solcher Revolver kostet 650 Dollar“, so der Erfinder. „Die Leute kaufen ihn bei mir und spielen dann in anderen russischen Städten – in Woronesch, Irkutsk, Nowosibirsk und auch in Moskau. Da ich mir auch das Spiel selbst habe patentieren lassen, kann ich das in jedem Moment untersagen. Ich verfolge gut, ob auch überall alle nach den richtigen Regeln spielen.
Der Gewinner eines solchen Spiels bekommt ein Börsenkonto und Sponsorengeschenke. Um Geld zu spielen ist streng verboten – das regelt bereits das russische Gesetz mit seinem Glücksspielverbot. Künftig, erzählt Jeschtschenko, würde er gerne eine TV-Show auf Grundlage des Spiels starten – am liebsten im Ausland – und sein Russisch Roulette offiziell als legales Glücksspiel lizensieren lassen. „mein Traum ist, dass auch die Zuschauer auf die Spieler wetten könnten und damit auch eine Möglichkeit bekämen, Geld zu verdienen. Ich habe schon Anrufe aus Indien bekommen, aus Moskau meldeten sich potentielle Partner. Aber das ist alles nichts geworden. Die Umsetzung ist schwierig, weil ich alle verstehen, dass das Spiel toller ist als jedes Rennen und dazu noch völlig gefahrlos für die Gesundheit.“
Plötzlich schreit eine junge Frau mit der Nummer zehn nach einem Schuss kurz auf. „Wenn Ihre Nachbarn hinter der Wand aufschreien, dann spielen sie Russisch Roulette“, witzelt der Spielleiter. „ich versteh‘ nicht, wie ich manchmal so ein Pech haben kann“, beklagt sich derweil die ausgeschiedene Spielerin Abysowa. „Jedes Mal habe ich einen Schuss abbekommen und konnte nichts tun. Da stehst du da und erträgst es. Echtes Russisch Roulette ist ganz bestimmt nichts für mich!“
Charisow kommt mit den Schüssen weitaus besser klar. Auch er war früher Sportler und nach seinem Ausscheidensucht er nach neuen Adrenalin-Quellen. Für ihn ist die Teilnahme am Russisch Roulette eine Möglichkeit, sich einmal „besser als andere zu fühlen“.
Gründer Jeschtschenko betont immer wieder, dass besonders viele aktive oder ehemalige Sportler zu seinem Russisch Roulette kämen, aber auch Vertreter anderer Berufe. „Zu uns kommen viele. Und obwohl sie sich während des Spiels Schmerzen zufügen, verlassen sie den Raum fröhlich und mit positiven Gedanken.“
Der Psychologe und Konfliktologe vom Zentrum zur Regelung gesellschaftlicher Konflikte, Oleg Iwanow, hält dieses neue Russisch Roulette ausschließlich für eine kurzfristige Mode auf der Suche nach einem neuen Nervenkitzel. „Für viele Menschen ist Angst eine Art des Kampfes gegen den Stress“, so Iwanow. „Das erklärt auch den Trend der Gruselrollenspiele: inszenierte Zombie-Überfälle, Geister und böse Dämonen. Solche Veranstaltungen gibt es ja heute viele.“
Die Psychologin Jekaterina Fjodorowa sieht das anders: Sie meint, dass der Teilnahme an solchen Spielen durchaus auch ein masochistischer Komplex zugrunde liegen könnte. „Der Mechanismus eines solchen Komplexes ist einfach“, erläutert sie. „Der Organismus reagiert auf physischen Schmerz mit der Ausschüttung von Endorphinen, dem Glückshormon. Im Unterbewusstsein verbindet man dann schmerz mit Euphorie. Im Grunde ist das eine Art der Selbst-Narkotisierung.“ Ein Anzeichen für eine psychische Störung sei das jedoch noch lange nicht und es führe auch nicht zu Suizidgedanken. Es heißt nur, „dass die Person mit etwas in seinem Leben unzufrieden ist, wenn er schon zu solchen ‚Dopingmethoden‘ greift.“
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