„Hier kennt jeder jeden, das ist doch Ischewsk! Bei uns werden die Kalaschnikow-Gewehre produziert, die in der ganzen Welt bekannt sind. Was man noch über uns sagen kann? Dass die Buranowskije Babuschki hier gemacht wurden.“
Der Taxifahrer lacht und trommelt mit seinen Fingern eine udmurtische Rap-Melodie auf dem Lenkrad. Buranowskije Babuschki sind der ganze Stolz der Republik Udmurtien. Im Jahr 2012 schaffte es die Gruppe sogar zum Eurovision Song Contest und belegten mir ihrem Song „Party for Everybody“ den zweiten Platz.
Das Dorf Buranowo, aus dem die Babuschkas kommen, liegt 36 Kilometer von Ischewsk entfernt. Dort stellen sich die Frauen tatsächlich „selbst her“: Es gibt nämlich eine Zweit- und Drittbesetzung der Band. Dennoch ist Ischewsk weitaus mehr für die Herstellung der Waffen des Unternehmens Kalaschnikow bekannt und auch an die Anwesenheit der Udmurten, einem finno-urgischen Volk, das einst hier lebte, erinnern nur noch die zweisprachigen Straßenschilder.
“Wussten Sie, dass Steve Jobs ein Ehrenbürger Udmurtiens ist?”, fragt der Taxifahrer, der mich, koste es, was es wolle, ins Staunen versetzen möchte.
Ja, weiß ich, ebenso wie Kasimir Malewitsch, Emir Kusturica, Albert Einstein und John Lennon. Die Ehrenbürgerschaft wurde ihnen scherzhaft mit der Formulierung „für einen besonderen Einfluss auf Udmurtien“ verliehen – ein Kalauer der in Ischewsk ansässigen Künstler. Wohl aus dem gleichen Grund stellten sich die Einwohner der Stadt eine Kopie der Sankt Petersburger Alexandersäule, eine Zarenkanone sowie ein Romanow-Porträt in der Nähe des Friedhofs auf, und das, obwohl dort kein Familienmitglied der Romanows begraben liegt.
Das Auto hält an, der Taxifahrer zwinkert mir verschwörerisch zu.
Im historischen Stadtzentrum von Ischewsk findet man das russische Theater, ein dreistöckiges, säulenumsäumtes Gebäude, das ein wenig an den Eingang einer Moskauer U-Bahn-Station erinnert. Direkt nebendran befindet sich das udmurtische Theater, das ein wenig kleiner ist und keine Säulen besitzt.
„Mach dir keinen Kopf, hier ist alles… ein wenig surreal“, sagt Nikita, der sein ganzes Leben in Ischewsk verbracht hat und Dokumentarfilme über die Republik Udmurtien dreht.
„Es lässt sich nicht genau sagen, wo der Unterschied zwischen uns und den Udmurten ist. Er ist nicht besonders offensichtlich“, erzählt Nikita.
Früher wurden die Udmurten nach der 40 Kilometer entfernten Stadt Wotinsk und dem Wotjkafluss Wotjaken genannt. In Ischewsk gelten sie heute als eine Art „Ureinwohner“ der Republik. Nanibah Chacon, eine amerikanische Künstlerin aus New Mexico, die nach Ischewsk reiste und sich dort zwei Wochen lang der Wandmalerei widmete, zeigt sich über die Ähnlichkeit zweier so weit von einander entfernten Kulturen erstaunt: Laut ihr und ihrem Kunstwerk, das eine Frau in einem traditionellen udmurtischen Kopftuch abbildet, tragen die älteren Frauen des nordamerikanischen Navajostammes die gleichen Tücher.
Zu Sowjetzeiten arbeiteten vorwiegend Russen als qualifizierte Arbeitskräfte in den Fabriken, die Udmurten hingegen mussten oft schwarz oder in den entlegeneren Dörfern arbeiten und galten als „unzivilisiert“. Unter der Herrschaft Stalins galt das Wort „Wotjak“ sogar als herabwertend. Heute, meint Nikita, gehöre das jedoch der Vergangenheit an. Mittlerweile gibt es nur Leute, die alle in Plattenbauten wohnen und alle gleich sind.
Aus dem Fenster seiner Einzimmerwohnung, die sich im 12. Stock eines dieser Plattenbauten befindet, kann man über die gesamte Stadt blicken: Rohre, Beton, Fabrikrauch und ein farbloser Himmel, überall, wo man auch hinschaut.
„Man kann eigentlich nur einen einzigen Eindruck von Ischewsk bekommen: die Form eines Mikroschaltkreises. Vom Flussufer zum schwarzen Quadrat führt eine Treppe. Das ist der Ingenieursbau der Motorfabrik, wo gedacht und getüftelt wird. Die Wohnhäuser sind wie Cluster. Auf einem ist sogar ein Ornament in Form eines riesigen Chromosoms zu sehen.“
Im Stadtteich spiegelt sich das Tageslicht wider und blendet mich. Er wurde von Hand in Zusammenarbeit mit dem Dorf Jagul zur Zeit des Russischen Reiches im Jahr 1760 ausgegraben, um daneben das erste Unternehmen, eine Stahlfabrik, zu bauen. Deren altes, abgeblättertes Grundgerüst steht noch immer da – als eine Art stillschweigender Vorwurf an die Behörden der Stadt, denen bislang das Geld für die Renovierung fehlt.
Hier geht im Winter so gut wie niemand spazieren. Am Teich treffe ich in zwei Stunden nur zwei Männer, die beide in Rente sind und vor über 20 Jahren hierher zogen, weil „hungrige Zeiten“ ausbrachen und es „hier einfach wunderbar war“. Mit den hungrigen Zeiten sind natürlich die 1990er-Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion gemeint, als nach und nach ein Großteil der Fabriken geschlossen wurde. Allein die Erinnerung an die Zeit bringt die Männer in Aufruhr. Es scheint sich immer noch um „ein explosives Thema“ zu handeln, wenn auch unklar ist, ob sich die Wut gegen das Sowjetregime oder die jetzige Regierung richtet. Vielleicht auch gegen beide gleichzeitig.
Dennoch scheint Ischewsk verhältnismäßig glimpflich davongekommen zu sein. Das mag an der Dichte der Fabriken der Stadt liegen: Nicht alle wurden geschlossen. An Stelle derer, die diese ökonomische „Sturmtief“ nicht überlebten, wurden neue graue Hallen gebaut. Manchmal blieb dabei sogar das ursprüngliche Gebäude erhalten.
Es mag auch daran gelegen haben, dass die Stadt geographisch „etwas außerhalb“ liegt. Bis in die 1980er-Jahre gab es von hieraus keine direkte Straßenverbindung zu den Nachbarregionen, in die Stadt fahren konnten aufgrund einiger Gebäude der Rüstungsindustrie nur diejenigen, die spezielle Pässe dafür besaßen. Außenstehenden war die Einfahrt untersagt. Heute sind Touristen, die sich für Industriekomplexe und Kalaschnikows interessieren, willkommen. Die Einwohner selbst interessieren sich jedoch wenig für die Tatsache, dass hier das berühmteste Maschinengewehr der Welt produziert wird.
Zu Beginn der Jahrtausendwende erzählte man sich, dass die Stadt schon bald die Ein-Millionen-Grenze überschreiten würde. Dazu kam es nicht und momentan leben hier um die 646 000 Menschen. Der 27-jährige Verkäufer und Student Kolja kann seine Enttäuschung darüber nicht verbergen: Es sei hier „träge“ und „langweilig, sonst nichts“. Aus diesem Grund möchte er, wie viele seiner Kommilitonen im Studentenwohnheim, im nächsten Jahr nach Sankt Petersburg ziehen.
Zum Teil lässt sich diese Einstellung mit der allgemeinen russischen Meinung erklären, dass es sich in Moskau oder Sankt Petersburg am besten leben ließe. Und auch wenn Nikita versichert, dass man hier so gut wie nichts unternehmen könne, hat die Stadt durchaus ein interessantes Kulturleben zu bieten.
So galt die Stadt zwischen den 1980er- und den 2000er-Jahren als „die Hauptstadt der russischen elektronischen Musik“. Plattenfirmen wie Kama Records siedelten sich hier an, DJs aus England, den USA, Deutschland oder Island kamen hierher. Und auch heute gibt es hier viele Leute, die kreativ tätig sind.
„Alle sitzen in ihren Schlafzimmern. Das ist eigentlich sehr russisch: Ein Musiker, der im Schlafzimmer komponiert und das Ganze dann ins Netz stellt“, sagt Nikita. In seiner Wohnung bemerke ich derweil das Poster seines Dokumentarfilmes „Die Ertrunkenen“.
Darauf sind umgekehrte, im Stadtteich „ertrunkene“ Fabriken und Rohre zu sehen. „In der Vorstellung der Udmurten ist ein Ertrunkener kein Toter“, erklärt Nikita. „Stattdessen ist er ein Mensch, der eine andere, parallele Welt betreten hat, die sich mit unserer nicht überschneidet. Das ist eine Metapher über das Leben in dieser Stadt. Wir haben sogar mal ein Sammelband herausgebracht, das den Titel „Neues aus der Unterwasserstadt Ischewsk“ trug. Es gibt in dieser Stadt nicht einmal einen normalen Club. Aber ein wildes Kulturleben.“
Man kann diejenigen, die aus Ischewsk wegziehen möchten, verstehen. Es gibt aber auch jene, die hier glücklich sind. Der Charme dieser Stadt mag vielleicht weniger offensichtlich als der der russischen Metropolen sein, dennoch ist er vorhanden. So bemerke ich nach zahllosen Plattenbauten ein Haus, auf dem in Großbuchstaben „NICHT KANTEN“ geschrieben steht.
“Was bedeutet das?” – “Das stand früher auf den Kartons, in denen sich Fernseher befanden. So wurden die verschiedenen Frachtgüter markiert. Auf dem Gebäude wurde diese Aufschrift am Anfang der Jahrhundertwende angebracht.“
Ihr Sinn besteht laut Nikita darin, zu verdeutlichen, dass Menschen sehr zerbrechlich und keine Ware sind. Ich stelle mir währenddessen vor, wie Tausende zerbrechlicher Leute Maschinengewehre und Atomwaffen einsammeln, später in ihre Plattenbauten zurückkehren und darüber nachdenken, wer einen größeren Einfluss auf sie ausübte – der einheimische udmurtische Avantgardist Malewitsch oder John Lennon.
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