In einem gewöhnlichen Moskauer Einkaufszentrum gibt es einen Umkleideraum, der aussieht wie der eines Showstars. Auf Ständern hängen Kleider mit Federn, Blumen und Pailletten. Junge Paare drängen sich an den Kleiderständern, sie kichern und begutachten die grellen Kostüme. In der Ecke stehen zwei Tische voller Schminkutensilien.
Hier können sich potentielle Partygänger ein Kostüm ausleihen oder sich von einer Visagistin schminken lassen. Sie zaubert auch in meinem Gesicht und sagt mir, dass mein Kleid zu zugeknöpft wirke. Ich solle besser Strümpfe und Slip ausziehen, das würde sowieso passieren.
Im Eingangsbereich des Clubs, der – symbolträchtig - den Namen „Wahrheit” hat, warten Leoparden, Fledermäuse, Schamanen und sogar eine Kuh - eine zierliche Blondine in einem Body, mit Hörnern auf dem Kopf und einer Milchkanne in der Hand, auf Einlass. Manchen zittern die Hände und sie wagen kaum aufzublicken, aus Sorge, auf einen Bekannten zu treffen.
Andere verwandeln sich direkt hier in eine tierische Persönlichkeit. An den Wänden hängt ein Plakat. Darauf stehen die Party-Regeln: „Im Rahmen der russischen Gesetze ist alles erlaubt! Du willst etwas? Frage! Beachte: Ein Nein heißt auch Nein!”
Der Eintritt zu dieser Party ist nicht Jedermann gestattet. Vor dem Kauf einer Karte müssen die Hoffnungsvollen erst einen Fragebogen ausfüllen, zu ihren Social Media Accounts verlinken und Fotos zur Verfügung stellen. Am Eingang werden die Gesichter (und mehr) kontrolliert.
Endlich im Inneren des Clubs angekommen, sind Zurückhaltung und Ängste schnell vergessen. Einige Neulinge flirten sofort los, andere holen sich erst an der Bar einen Drink für etwas mehr Mut. Auf der Hauptbühne hockt eine als Katze verkleidete Frau auf allen Vieren, daneben stehen zwei Schalen mit Müsli und Milch. Aus Neugier füttere ich sie aus der Hand. Zum Dank schnurrt sie und reibt sich an meinem Bein.
Unweit der Bühne steht ein kleines Bassin mit Bällen. Daraus ragen nur zwei Paar Füße. Auf der anderen Seite tanzt eine Frau im Korsett im Käfig. Ich schaue mich um und begegne dem Blick eines Mädchens, das mir sehr vertraut vorkommt. Eine Sekunde später erkenne ich in ihr die Visagistin. Sie hat Jeans und T-Shirt gegen ein Netzkleid getauscht. Ihre Brustwarzen werden nur von zwei Aufklebern bedeckt. Sie hat meinen erschrockenen Blick bemerkt und sagt: „Komm schon, sei nicht schüchtern. Hier kannst Du Du selbst sein.”
Auf der Hauptbühne stehen sich ein paar Frauen und Männer gegenüber. Dies ist ein Spiel, das als Eisbrecher dienen soll. Irgendwie bin ich plötzlich mittendrin in diesem seltsamen Ritual.
Die Männer werden aufgefordert, Tiergeräusche zu machen. Im Club ertönt lautes Jaulen und Knurren. Dann treten die Mädchen einen Schritt nach links und stehen einem anderen Mann gegenüber. Diesem müssen sie eine neue Aufgabe stellen. Vor mir steht ein Mann im Hasenkostüm. Nun muss ich ihm sagen, was er tun soll. Neben mir knutscht eine Schwanenprinzessin bereits mit ihrem Gegenüber. Ich höre mich, wie ich meinen Partner bitte, mich zu versohlen. Nun geht es noch einen Schritt nach links. Jeder bekommt einen Lutscher in Form von Genitalien. Wir müssen ihn zu zweit ablecken. Das endet bei den meisten mit Küssen.
Im zweiten Stock stehen mehrere Sofas und zwei Massageliegen. Darauf lassen sich eingeölte Frauen von jeweils zwei Männern massieren.
Auf den Sofas ist kein Platz mehr frei. Dort haben sich Paare, Dreier- und manchmal Vierergruppen niedergelassen. Gleichgeschlechtliche Paarungen sind fast keine darunter. Alle sind noch jung, unter 35.
Auf einem der Sofas sitzen in jeweils einer der Ecke zwei Mädchen. Die eine hat die Beine übereinandergeschlagen und starrt ins Leere. Die andere weint. In der Mitte hat ein Paar Sex, ohne die Tränen zu bemerken. Auf die Frage, was los sei, sagt sie, es sei alles in Ordnung und sie wolle nicht angefasst werden.
Vom zweiten Stock aus hat man einen guten Blick auf die Burleske-Tänzerinnen, doch niemand schenkt ihnen Beachtung. Nach und nach verlassen die Besucher die Tanzfläche, nehmen Kondome, Gleitgel, Handschuhe und Chlorhexidin aus bereitgestellten Kisten.
Im Erdgeschoss wurde inzwischen die „Kuh“ an den Beinen an der Decke aufgehangen. Sie wird von mehreren Zuschauern beobachtet, die anderen kümmert es nicht. Ihr Stöhnen und Schreien scheint manchmal lauter als die Musik.
„Ich will diesen Schmerz”, erklärt die „Kuh”. „Unter meiner Brust kann man die Spuren sehen. Vollständig gefesselt, muss man sich einer anderen Person völlig hingeben. In diesem Moment spüre ich eine große Ruhe”, sagt sie über ihre Bondage-Erfahrungen. Sie ist nicht zum ersten Mal auf solch einer Party.
Die Hälfte der Besucher sind Paare, die Abwechslung suchen, andere wollen etwas Neues ausprobieren, sich selbst finden oder sich von Komplexen befreien. Nicht jeden Tag zeigt man sich schließlich nackt und mit Hörnern auf dem Kopf vor fremden Leuten.
Rund 70 Prozent der Partybesucher haben Sex, sagt eine junge Frau. Aber es besteht kein Zwang dazu. Andere verbringen den Abend mit Cocktail trinken und auf der Tanzfläche und haben auch ihren Spaß. „Wir sind Russen, wir lieben es zu trinken”, sagt die Frau und hüpft davon, um mit Freunden zu tanzen.
Solche Sexpartys gibt es in Russland erst seit etwa drei Jahren, sagt Mitveranstalterin Taja Reschetnikowa. In anderen Ländern sind sie verbreiteter, weil sie dort schon ein alter Hut sind. Gleichgeschlechtliche Paare würden eher Partys im privaten Rahmen bevorzugen, weil sie Angst vor Repressalien hätten.
Sehr beliebt seien in Russland „Augen weit geschlossen -Partys”, mit Abendkleidern, Umhängen und kunstvollen Masken. Taja erzählt, dass sie einmal eine Cross-Dressing-Party organisiert habe. Die Männer kamen als Frauen, die Frauen als Männer. Aber es hat sich nicht durchgesetzt. Man mag es kaum glauben, aber für russische Partygänger war das wohl zu exotisch.
Als ich die Party verlasse, ist es kalt und unangenehm draußen. Ich schaue auf mein Handy und sehe, dass ich fünf Anrufe meiner Mutter verpasst habe. Ich muss sie zurückrufen und werde nach Hause gehen – zurück in die Welt der Menschen.
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