(Bemerkung: Juri hat die Umwandlung noch nicht abgeschlossen und ist biologisch immer noch eine Frau. Er zieht es jedoch vor, als Mann angesprochen zu werden.)
Am ersten September in einer Moskauer Schule. Die Klassenlehrerin prüft in einer 11. Klasse (die letzte Klasse im russischen Schulsystem – Anm. d. Red.) die Anwesenheit nach dem Klassenbuch. An der vierten Schulbank in der Mitte sitzt ein schmächtiger Jugendlicher mit einem runden Kindergesicht und einer breiten Nase.
Als die Lehrerin einen Mädchennamen aufruft, hebt der Junge schüchtern seine Hand und zittert vor Aufregung. Er stellt sich bereits das Tuscheln der Klasse vor und dass am Ende der Stunde die ganze Schule von seinem Geheimnis wissen werde.
Tatsächlich aber waren alle mit ihren Smartphones beschäftigt und beachteten ihn nicht einmal. Der erste Tag in der neuen Schule verlief ruhig.
Seit Sommer 2017 beginnt Juri illegal einer Hormontherapie. In Russland benötigt er eine Sondergenehmigung zur Durchführung einer solchen Therapie, da er noch nicht volljährig ist. Deshalb wartet er nun voller Ungeduld auf seinen 18. Geburtstag – dann kann er seinen Namen in den Dokumenten ändern und die Operationen durchführen lassen, die ihn am Ende in einen Mann verwandeln werden.
Juri ist das zweite Kind einer Großfamilie. Seinen früheren Vornamen will er nicht nennen. Mit den drei Brüdern, der Schwester und den Eltern lebten sie in einer Zweizimmerwohnung in der Nähe Moskaus in einem Dorf mit einer Bevölkerung von 11.000 Einwohnern. Alle Kinder wohnten in einem Zimmer.
Der Vater war gläubig, auf seine Initiative hin gingen sie in die Kirche und Juri besuchte die Sonntagsschule. Er wuchs als typischer bescheidener Schüler und Sportler auf, beschäftigte sich mit Schwimmen und Kunstturnen. Manchmal hörte Juri seine Eltern im Nebenzimmer streiten. Als er 13 Jahre alt war, ließen sie sich scheiden. Seitdem ist die Familie nicht mehr in die Kirche gegangen.
Es war nicht so, dass Juri Kleider hasste – er konnte sie zu besonderen Anlässen tragen, aber er bevorzugte trotzdem Jeans, Poloshirts und einen kurzen Haarschnitt. Seine Mitschülerinnen unterhielten sich vor dem Sportunterricht im Umkleideraum über ihre Menstruation. Juri hingegen war froh, dass er keine Periode oder Brüste hatte und hoffte, dass es auch so bleiben würde.
„Ich sah meine Brüder aufwachsen und fragte mich, warum ich mich nicht so entwickelte wie sie. Sogar meine Arme störten mich – ich wollte breitere Schultern haben und größer sein als ich war“, sagt er.
„Bei uns war es nicht üblich, seine Gefühle zu zeigen“, charakterisiert Juri seine Familie. Seine Mutter war Ärztin, war aber sieben Jahre lang zu Hause und zog seinen jüngeren Brüder groß. In der Zwischenzeit wurde der ältere immer aggressiver. Als Juri zehn Jahre alt wurde, begann sein älterer Bruder, ihn zu schlagen. Seine Mutter schenkte ihm keine Aufmerksamkeit, auch die anderen Brüder wurden gequält.
Das Prügeln hörte auf, als Juri 14 Jahre alt war, aber er begann sich bald depressiv zu fühlen. Er versichert, dass die Verhältnisse in seiner Familie damit nichts zu tun hatten, er fühlte sich einfach nur fremd in seinem Körper und hatte bereits begonnen, Artikel über Transsexualität zu lesen. Er lernte auch im Internet jemanden kennen, der das Geschlecht wechseln wollte. Juri betrachtet ihn als seinen einzigen Freund.
„Die meiste Zeit schwänzte ich die Schule, ich lag zu Hause im Bett und starrte an die Decke. Ich ritzte mich und unternahm mehrere Selbstmordversuche. Meine Mutter ließ mich nicht auf den Balkon gehen und schlug vor, mir die Auftritte des Motivationsredners Nick Vujicic anzusehen. Später ging sie mit mir zu Psychologen, aber die konnten mir auch nicht helfen“, erzählt Juri.
Er sagte, er habe sich einmal geritzt und dann die Wunde mit Garn und einer Nähnadel genäht. Als seine Mutter das sah, sagte sie, er hätte ein guter Chirurg werden können. Um ihren Sohn aufzurütteln, rief sie einmal den Notarzt, damit dieser ihn mit der Einweisung in die Nervenheilanstalt drohe. Das hat aber auch nicht funktioniert.
Die Depression dauerte fast die ganze achte Klasse über, bis Juri den Gedanken nicht mehr aus dem Kopf bekam, dass er die neunte Klasse nicht mehr erleben werde, wenn er nicht mit der Hormontherapie beginnen würde, über die er im Internet gelesen hatte.
Wenn Sie zufällig einen Mann in einer dunklen Gasse sehen, der heimlich Pillen oder Ampullen an einen Teenager vertickt, halten Sie ihn nicht für einen Drogendealer. Er verkauft vielleicht Medikamente für eine Hormontherapie.
„Medikamente in Apotheken werden nur auf Rezept verkauft, weshalb ich sie nicht bekommen konnte. Auch sind sie in Apotheken sehr teurer. Was Sie im Internet für 700 Rubel (10 Euro) kaufen können, kostet in der Apotheke etwa 5.000 Rubel (70 Euro)“, erklärt Juri.
Im Sommer jobbte er als Kurier, um das Geld für die Medikamente zusammen zu bekommen. Er begann auch, einen speziellen Spanngurt zu tragen, damit seine Brust „männlicher“ aussieht.
„Meine Brüste haben nicht einmal Körbchengröße A, aber selbst die Brustwarzen von Frauen unterscheiden sich von denen von Männern“, beschwerte er sich.
Zwei Monate nach Beginn der Therapie zeigten sich die ersten Erfolge: Die Stimme wurde leise und heiser, das Haar verdunkelte sich stark, und das Gesicht war mit Pickeln bedeckt. Die Brüder bemerkten dies sehr schnell und baten die Mutter, mit Juri zum HNO-Arzt zu gehen. Diese schlug ihm nur einmal vor, den Endokrinologen aufzusuchen, als sie sich die Pickel ansah.
„Ich wusste, dass sie alles verstanden hatte, aber sie wollte einfach nicht darüber reden“, sagte Juri.
Bald bat Juri seine Mutter, ihn unter dem Vorwand, dass seine alte Schule ein schlechtes Bildungsniveau habe, auf eine Moskauer Schule zu versetzen. Er sagte ihr nicht, dass sein Transgenderfreund aus dem Internet (er wurde auch im Körper eines Mädchens geboren) ebenfalls diese Moskauer Schule besucht.
„Nach der Depression war meine Mutter im Grunde genommen froh, dass ich am Leben war, also stimmte sie zu“, erklärt Juri die Reaktion seiner Mutter.
So zog er nach Moskau, wo er anfing, mit dem Geld, dass er zum Teil durch das Jobben verdiente, zum Teil von seiner Mutter bekam, zusammen mit seinem Freund eine Wohnung zu mieten. Seine Mutter sieht er „etwas öfter als einmal im Monat“. Bei den Treffen schweigen sie mehr, als sie reden.
Juri ist ein ausgezeichneter Schüler und bereitet sich zurzeit auf die Abschlussprüfungen in der Schule vor. Nach dem Abitur will er an der Universität Chemie studieren.
Er wird sich in St. Petersburg der Kommission vorstellen, die die Erlaubnis zum Geschlechtswechsel erteilt, da in Moskau der bürokratische Aufwand größer ist. Alle Untersuchungen und Analysen werden etwa 32.000 Rubel (460 Euro) kosten.
„Zuerst brauchst du eine Bescheinigung, dass du keine Probleme auf dem Gebiet der Gynäkologie hat, und dann noch viele andere Untersuchungen“, erklärt Juri. „Vor der Kommission musst du einen Psychotherapeuten aufsuchen und ihm einen Aufsatz über dein Leben abgeben, in welchem du darlegst, warum du dein Geschlecht ändern willst. Wenn sie Schizophrenie oder eine bipolare Störungen feststellen, lassen sie dich nicht für die Kommission zu. Mit Depressionen und Narben lassen sie dich zu, aber du wirst gründlich untersucht.“ Juri trägt normalerweise langärmlige Hemden, um seine Narben zu verbergen.
Ob Transsexualität diagnostiziert wird, entscheidet die Kommission, bestehend aus einem Sexologen, einem Psychiater und einem Endokrinologen. Bei positiver Entscheidung stellen die Ärzte eine Bescheinigung aus, mit der es möglich ist, den Namen offiziell zu ändern und mit den Operationen zu beginnen.
„Einige verzichten auf die Operation und geben sich damit zufrieden, nur den Namen zu ändern. Aber ich will das bis zum Ende durchziehen. Ich werde mir definitiv Brust, Gebärmutter und Eierstöcke entfernen lassen. Sonst kann man an Krebs erkranken“, teilt Juri seine Pläne mit.
Es gibt auch Operationen zur Bildung eines Penis – entweder aus der Klitoris oder aus einem Stück Haut der eigenen Hand, aber das Ergebnis könne „ästhetisch unangenehm und wenig funktionell“ sein, erklärt Juri. Deswegen ist er etwas neidisch auf transgendere Mädchen: Eine Vagina ist leichter zu formen als ein Penis.
Er analysiert nicht gerne, was ihn zu dieser Entscheidung geführt hat: Er ist sicher, dass es dafür sowohl soziale als auch biologische Gründe gibt. Gleichzeitig denkt er, dass es in Russland mehr Transgender-Männer als -Frauen gibt und in Russland Männer, die ihr Geschlecht geändert haben, schlechter behandelt werden.
Laut einer Umfrage des Lewada-Zentrums aus dem Jahr 2019 haben 56 % der Russen eine negative Einstellung gegenüber Mitgliedern der LGBT-Gemeinschaft. Fast die Hälfte der Russen (47 %) glaubt jedoch, dass LGBT-Personen die gleichen Rechte haben sollten wie andere Bürger.
„Vom rechtlichen Standpunkt aus gesehen geht es uns gut, aber die Russen haben eine fast angeborene Intoleranz gegenüber LGBT. Deshalb sollten bei uns keine Paraden veranstaltet werden – sie werden dann noch schlechter behandelt. Es ist besser, mit Serien oder Filmen über LGBT zu beginnen. Vielleicht wird es dann für ihre Vertreter einfacher sein zu leben. Eines Tages.“
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