Sowjetisches Serum gegen Tuberkulose rettet vor Coronavirus. Ist das wahr?

Igor Ivanko / Moscow Agency
Amerikanische Wissenschaftler behaupten, dass die weit verbreitete Tuberkuloseimpfung die Erkrankung und Sterblichkeit bei einem Covid-19-Infekt beeinflusst. Schauen wir uns an, um welche Art von Impfung es sich handelt und wie die Chancen stehen, dass sie wirklich hilft.

In den letzten Tagen wurde in ausländischen Medien diskutiert, ob ein herkömmlicher TBC-Impfstoff vor der neuen Coronavirus-Infektion schützen kann. Unter anderem Bloomberg, Reuters,Daily Mail undThe New York Times berichteten darüber. Sie alle schreiben über den Impfstoff mit dem Calmette-Guérin-Bacillus (BCG), der seit fast einhundert Jahren weltweit gegen Tuberkulose eingesetzt wird und möglicherweise als Waffe gegen das Covid-19-Virus verwendet werden könnte.

In Russland ist dieser Impfstoff allgegenwärtig und die Impfung für alle Kinder am 3. bis 5. Lebenstag obligatorisch (wenn es keine Kontraindikationen gibt). Wäre das eine Erklärung dafür, warum es im Land bisher noch so wenige Kranke gibt – nur 2.777 bei einer Bevölkerung von 144,5 Millionen?

Woher kamen die Daten über die Verbindung zwischen BCG und Coronavirus?

Es handelt sich hierbei um eine Studie von Mitarbeitern des American College of Osteopathic Medicine. Am 28. März veröffentlichte die Website MedRxiv einen Vorabdruck ihres Artikels, der den Unterschied aufzeigt zwischen den Todesfällen durch Coronaviren in Ländern mit obligatorischer BCG-Impfung und solchen, in denen diese freiwillig ist oder überhaupt nicht erfolgt. „Wir haben festgestellt, dass Länder ohne eine umfassende Politik der BCG-Impfung (Italien, Niederlande, USA) stärker betroffen sind als Länder mit einer umfassenden und langjährigen BCG-Politik“, heißt es darin. Die Sterblichkeit in Ländern mit BCG-Impfpflicht sei dreißigmal niedriger als in Ländern ohne eine solche Impfpflicht. „Wir haben zudem festgestellt, dass die BCG-Impfungen auch zu einer geringeren Zahl gemeldeter COVID-19-Fälle in den entsprechenden Länder geführt hat“, bemerkten sie.

Nach ihren Schlussfolgerungen erkläre dies, warum es so große Unterschiede in den Fallzahlen der Nachbarländer Spanien und Portugal gibt. Spanien hat eine viel höhere Sterblichkeitsrate. Das Land stellte 1981 sein obligatorisches BCG-Impfprogramm ein. In Portugal geschah dies erst 2017. Dasselbe gilt für die Neuen Bundesländer (ehemalige DDR mit Impfpflicht), in denen die Sterblichkeitsrate heute niedriger ist als in Westdeutschland.

Was ist das für ein Impfstoff?

Es ist der einzige zertifizierte Impfstoff gegen Tuberkulose. Jedes Jahr wird er 130 Millionen Menschen auf der ganzen Welt verabreicht. 2018 geschah dies in 153 Ländern. In  Industriestaaten erfolgte die Impfung jedoch nur teilweise (nur für gefährdete Kinder) oder gar nicht, da dort die Zahl der TBC-Patienten verschwindend gering ist. Die Vereinigten Staaten und die Niederlande beispielsweise haben den Impfstoff noch nie in großem Umfang eingesetzt.

Aber rund 10 Millionen Menschen auf der ganzen Welt erkranken jedes Jahr an TBC. Deshalb ist die Impfung in Ländern mit hohem Infektionsrisiko immer noch obligatorisch. Insbesondere in Brasilien, Russland, Indien, China und Südafrika. Dieser Impfstoff garantiert keine absolute Immunität, aber er schützt zu 60 – 80 %.

Wer hat das Serum entwickelt?

Die Sowjetunion war das erste Land, in dem der Impfstoff obligatorisch war, aber erfunden wurde er 1919 in Frankreich. Er wurde von den Wissenschaftlern Albert Calmette und Camille Guérin aus einem Stamm reduziert virulenter Kuh-Tuberkulosebazillen hergestellt. Ihr Impfstoff war jedoch flüssig, verdarb schnell und erhielt kaum eine öffentliche Anerkennung (1930 kamen wegen eines Fehlers durch den Impfstoff  72 von 240 Neugeborenen in der Stadt Lübeck um).

1925 übergab Calmette den Impfstoff dem sowjetischen Wissenschaftler Tarasjewitsch zur Überarbeitung, der die Wirksamkeit nachweisen konnte. Drei Jahre später wurde der Impfstoff durch das Gesundheitsgremium des Völkerbundes akzeptiert.

Hilft das Serum auch bei anderen Erkrankungen?

An diesem Problem wird schon seit langem geforscht. Gegenwärtig wird angenommen, dass BCG in 20 % der Fälle einer Lepraerkrankung eine schützende Wirkung hat. Es wurde auch in der Immuntherapie bei Blasenkrebs eingesetzt und bis 2015 glaubte man, dass der Impfstoff gegen Buruli Ulcer wirksam sei.

Kann es auch bei Covid-19 helfen?

Zumindest muss die Untersuchung bei einer Fokusgruppe durchgeführt werden. Im März wurde bekannt, dass dies in Australien, den Niederlanden, Deutschland und Griechenland erfolgen soll. Aber es gibt viele Skeptiker bezüglich der Wirksamkeit des BCG bei der aktuellen Coronavirus-Infektion. Denn wenn die oben erwähnte Theorie stimmte, warum gibt es dann in China, wo die BCG-Impfung sehr verbreitet ist, so viele Infizierte?

Zudem wurde die Dauer des Schutzes durch BCG bisher nicht genau ermittelt. Man geht davon aus, dass er zehn bis 15 Jahre anhält, danach jedoch abnimmt. Voraussetzung ist, dass die Impfung bei Kindern erfolgt. Bei Erwachsenen kann die Impfung nahezu unwirksam sein.

Die Autoren der Studie selbst stellten fest, dass „verschiedene Länder unterschiedliche BCG-Impfpläne [Impfung in unterschiedlichem Alter und Mengen] sowie unterschiedliche Bakterienstämme verwenden“. Niemand hat bisher untersucht, welcher Stamm die Ausbreitung der Infektion besser verhindern kann.

Und was sagen die russischen Ärzte?

„Die Vakzinierung mit BCG ist eine Möglichkeit, das Immunsystem zu stimulieren. Unter bestimmten Bedingungen hilft das wirklich. Aber um dies zu beurteilen, muss eine qualitativ hochwertige klinische Forschung durchgeführt werden“, sagt Nikolai Korobow, Pharmakologe und außerordentliche Professor für Grundlagenmedizin an der Moskauer Staatlichen Universität.

Im Allgemeinen bezweifelt in Russland niemand, dass das Serum ein Aktivator für die Immunität ist – wenn es verabreicht wird, reagiert der Körper ausgesprochen positiv. Seine mögliche Wirkung gegen das Coronavirus hat jedoch noch keiner Kritik standgehalten. „Die einzige Gemeinsamkeit zwischen Covid-19 und Tuberkulose besteht in der Übertragung über die Luft. Alles andere sind Phantastereien“, glaubt Alexander Pantelejew, Chef-Arzt des Tuberkulosekrankenhauses der Stadt St. Petersburg. „Das BCG-Serum ist ein kurzlebiger Impfstoff – er schützt maximal zehn Jahre. Zu diesem Zweck wurde auch eine Auffrischungsimpfung durchgeführt. Im Organismus eines Erwachsenen wirkt der BCG-Impfstoff schon per Definition nicht. Zu behaupten, dass damit ein Gegenmittel bei einem Coronavirus-Infekt zur Verfügung stehe, ist unseriös. Es handelt sich um völlig verschiedene Arten von Infektionen und welche Kreuzwirkung hier vorliegen könnte, ist völlig unklar.“

Auch der Arzt und Impfstoffexperte Jewgenij Timakow glaubt, dass mangels eines Nachweises diese Argumente nichts bedeuten: „Wenn darüber gesprochen wird, dass diese Impfung den Körper vor Covid-19 schützt, muss man prüfen, welche andere Impfungen erfolgt oder nichterfolgt sind, wie stark die Immunität ausgeprägt ist und welche grundlegenden allergischen Reaktionen bestehen. Und bisher gibt es mehr Fragen als Antworten.“

Aber selbst, wenn wir davon ausgehen, dass das BCG-Serum tatsächlich hilft, sollten wir in der nächsten Zeit nicht unsere Hoffnung darauf setzen. „Die Impfung muss vor einer Epidemie erfolgen. Bei der gegenwärtigen Pandemie dürfte sie also nicht helfen. Damit sich eine Immunität entwickeln kann, muss nach dieser Impfung eine gewisse Zeit vergehen. Es ist unwahrscheinlich, dass sie jetzt noch hilft“,ist der Immunologe Wladimir Bolibok überzeugt.

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