Bild: Tatjana Perelygina
Seit vielen Jahren ist Ramsan Kadyrow, Oberhaupt der Republik Tschetschenien, in der russischen Medienlandschaft präsent. In dieser Zeit ist es ihm gelungen, sich als unnachgiebiger Anführer mit einer Neigung zu Provokation zu inszenieren. Aussagen, die weit von dem entfernt sind, was noch als politisch korrekt gilt, sind zu seinem Erkennungsmerkmal geworden. Leider beschränken sich Analysen über Kadyrow viel zu oft auf rein äußere Effekte, die der Politiker zu erzeugen vermag. Doch hinter der Selbstinszenierung und dem provokanten Auftreten Kadyrows verbergen sich wichtige Tendenzen, die sich nicht nur auf eine einzelne Region Russlands, sondern auf das gesamte Land auswirken könnten.
Schaut man sich das Verhalten Kadyrows genauer an, wird man den Eindruck nicht los, dass er konsequent und beständig Grenzen überschreitet, die ihm als regionalem Oberhaupt durch seine unmittelbaren Amtspflichten gesetzt werden. In der Rhetorik des Anführers der nordkaukasischen Republik wirken die Ablehnung des Westens und der freizügige Umgang mit verfassungsrechtlichen Normen überzogen und beinahe karikaturhaft.
Eines sei vorweggenommen: Dass tschetschenische Anführer in einem gesamtrussischen Format aufgestellt werden, hat eine lange Tradition. Die Befriedung der Republik und ihre Integration in den gemeinsamen rechtlichen und sozio-kulturellen Raum bleiben bis heute ein Erfolgsindikator für den Aufbau einer russischen Staatlichkeit.
Auf den ersten Blick weist in der heutigen Russischen Föderation kaum ein anderes regionales Oberhaupt eine größere Loyalität gegenüber dem Präsidenten auf als Ramsan Kadyrow, der den regionalen Machtinhabern als einer der Ersten vorschlug, auf den Titel des Präsidenten zu verzichten. Viele Journalisten und Touristen, die Grosny besuchen, vergleichen die Stadt nicht mit den Hauptstädten benachbarter kaukasischer Republiken, sondern mit den Städten am Persischen Golf oder in den asiatischen Tigerstaaten.
Doch der Wohlstand basiert darauf, dass Tschetschenien de facto ein Sonderstatus eingeräumt wurde, auf Grundlage dessen die Republik nicht nur finanzielle, wirtschaftliche und administrative Subventionen erhält, sondern auch eine ideologische Freiheit (was bei der Massendemo „Je ne suis pas Charlie" in Grosnyj nur zu deutlich wurde) gewährt und in einzelnen
Gebieten der Republik teilweise auf das staatliche Gewaltmonopol verzichtet wird.
Nachdem die tschetschenische Machtvertikale errichtet war, wurden folgerichtig Versuche unternommen, diese in seiner Form russlandweit zu exportieren. Die Ukraine-Krise und die steigende Abwehrhaltung innerhalb der Russischen Föderation waren ein Anstoß für diese Tendenz, allerdings nicht die Ursache. Diese liegt in der Strategie einer Auslagerung von Souveränität, die seit Anfang der 2000er-Jahre in Tschetschenien verfolgt wird. Mit dem Ergebnis, dass nicht etwa Russlands Einfluss in Tschetschenien gestiegen ist, sondern Russland „tschetschenisiert" wird.
Theoretisch könnte Ramsan Kadyrow auf einigen politischen Bühnen auf föderaler Ebene spielen. Er könnte die Rollen eines suprakaukasischen Anführers, des Vorsitzenden russischer Muslime oder eines föderalen Staatsdieners annehmen. Bei näherem Hinsehen allerdings bringen diese drei Szenarien viele Nachteile mit sich und sind potentiell konfliktträchtig.
Was den Kaukasus angeht, so weist Tschetschenien andauernde und ernstzunehmende Gegensätze zu seinen Nachbarn auf. Gemeint sind der
nach wie vor ungelöste Streit über die Grenzen mit Inguschetien und auch die Frage nach dem Wiederaufbau eines überwiegend von Tschetschenen bewohnten Gebiets im Bezirk Nowolakskij in Dagestan; ganz zu schweigen davon, dass das Prinzip der Machtvertikale für die politische Kultur Dagestans inakzeptabel wäre. Darauf musste selbst der mit allen Mitteln vom Kreml unterstützte Ramasan Abdulatipow Rücksicht nehmen. Vor diesem Hintergrund sind tschetschenische Anführer gut beraten, die Möglichkeit, als Vertreter aller kaukasischen Völker aufzutreten, mit Vorsicht zu genießen.
Das trifft auch auf die mögliche Rolle des Vorsitzenden russischer Muslime zu. In der Russischen Föderation sind Muslime keine homogene Gruppe – nicht mal im Nordkaukasus, von der Wolga-Region ganz zu schweigen. Zu beachten ist ebenfalls, dass vorherige Versuche, den Russischen Mufti-Rat, die zentrale geistige Verwaltung der Muslime Russlands, und das Koordinationszentrum nordkaukasischer Muslime zu einer Organisation zusammenzuführen, keineswegs von Erfolg gekrönt waren.
Stellt man Überlegungen über eine eventuelle Karriere Kadyrows im föderalen Staatsdienst an, wird man nicht ignorieren können, dass sich bei den Bediensteten zentraler Ministerien in den langen Jahren einiger Unmut
über die Alleingänge des tschetschenischen Oberhaupts angestaut haben muss. Erst kürzlich kommentierte und kritisierte das russische Innenministerium das tschetschenische Oberhaupt nach einem Vorfall in Grosnyj, bei dem die Interessen Kadyrows und des föderalen Ministeriums kollidiert waren.
Daher genießt momentan die Aufgabe, die brodelnde Energie des tschetschenischen Machthabers in geordnete Bahnen zu lenken, höchste Priorität. Diese Aufgabe birgt gewisse Risiken und erfordert eine durchdachte Strategie anstelle eines stürmischen Angriffs. Doch tatenlos zu bleiben, ist nicht weniger gefährlich. Denn auf diese Weise könnte sich das Kriegszustandsmanagement, das in einer Republik der Russischen Föderation getestet wurde, aus einer Ausnahme in eine allgemeingültige Regelung verwandeln, und zwar für das ganze Land.
Sergej Markedonow lehrt am Lehrstuhl für Regionale Auslandsstudien und Außenpolitik an der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität.
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