Abschied von Genscher: Mit behutsamen und leisen Schritten

Hans-Dietrich Genscher (links) mit Michail Gorbatschow (rechts) im Juni 2001 im Heimatdorf des letzten sowjetischen Oberhaupts nahe Stawropol während der Aufnahmen zu einem deutschen Dokumentarfilm über die mächtigsten Politiker der vergangenen Jahrzehnte.

Hans-Dietrich Genscher (links) mit Michail Gorbatschow (rechts) im Juni 2001 im Heimatdorf des letzten sowjetischen Oberhaupts nahe Stawropol während der Aufnahmen zu einem deutschen Dokumentarfilm über die mächtigsten Politiker der vergangenen Jahrzehnte.

RBTH/ Konstantin Tarusov / TASS
Am 31. März 2016 starb der frühere Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher. Mit großem diplomatischem Geschick setzte er sich für die Überwindung der Grenzen des Kalten Krieges ein – ein Stück Schwerstarbeit, das ihm gelungen ist. Ein Nachruf.

Ein sowjetischer und ein deutscher Soldat, beide noch blutjung, stehen sich im April 1945 in der Nähe von Berlin unerwartet gegenüber. Beide heben das Gewehr an, verharren einen Augenblick, senken ihre Waffe, schauen sich betroffen an und laufen auseinander. „Wir konnten nicht schießen“, erklärt Jahrzehnte später der deutsche Soldat, „wir waren keine Feinde“. Es ist die erste Szene aus einem Drehbuch für einen Film über das Leben von Hans-Dietrich Genscher.

Es ist typisch, dass der frühere deutsche Außenminister gerade diese Begegnung mit einem jungen Russen an den Anfang des Films setzen wollte. Hans-Dietrich Genscher haben seine kurzen, aber dramatischen Erfahrungen mit der Sinnlosigkeit eines verbrecherischen Krieges nie verlassen. Sie haben sein langes politisches Leben geprägt. Die Pflege der transatlantischen Beziehungen, die Entwicklung der Europäischen Union und insbesondere die Versöhnung mit Russland und den anderen Nachbarn in Osteuropa waren seine beständigen Zielmarken, denen er bis zu seinem Tod treu geblieben war. Er wollte der Anomalie des Kalten Krieges ein Ende setzen, die durch die Nachkriegsordnung erzwungene starre Trennung von Ost und West auflösen und dem bornierten Denken in Blöcken Einhalt gebieten. Das waren anspruchsvolle Selbstverpflichtungen. Genscher hat sie erfüllen können.

Das war eine schwierige Wegstrecke. Die Gegner einer solchen Politik saßen in beiden Lagern. Der deutsche Außenminister sah sich nur allzu oft Verdächtigungen und Verleumdungen ausgesetzt. Er litt darunter, ließ sich aber nicht erschüttern. Genscher benutzte in seinen Reden gern ein Zitat von Victor Hugo: „Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ Aus seiner Sicht schien die Zeit gekommen zu sein, das „Zeitalter der Konfrontation und der Teilung Europas“ durch ein „neues Zeitalter der Demokratie, des Friedens und der Einheit“ abzulösen. Deswegen setzte er zur Bekräftigung des Zitates von Hugo häufig hinzu: „Diese Zeit ist da!“

Genscher baute behutsam und unaufdringlich Vertrauen auf

Es war ein Stück Schwerstarbeit, die Wiedervereinigung Deutschlands zu erreichen und die Mitgliedstaaten der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) zu gewinnen, sich in der Charta von Paris im November 1990 auf friedliche Zusammenarbeit im Kooperationsraum von Vancouver bis Wladiwostok zu verpflichten. Das konnte niemals nur Werk eines Politikers oder einer Nation sein. Eine glückliche Fügung der Geschichte und eine einmalige Konstellation der Führungspersönlichkeiten Anfang der neunziger Jahre ließen zu, dass das Fundament zu dieser verheißungsvollen Zusammenarbeit gelegt wurde.

Dabei spielte allerdings für den Erfolg dieser Politik die einzigartige Fähigkeit von Hans-Dietrich Genscher eine Rolle, in behutsamen, leisen und unaufdringlichen Schritten Vertrauen aufbauen zu können. Diejenigen, die es gut mit ihm meinten, sahen in ihm die „Verkörperung einer vertrauensbildenden Maßnahme“. In den Beziehungen zur damaligen Sowjetunion und im heutigen Russland wurde Genscher zu einem berechenbaren Vermittler. In den 18 Jahren seiner Dienstzeit als deutscher Außenminister und danach gab es keinen russischen Parteichef, Staatspräsidenten oder Außenminister, der nicht mit Hochachtung von ihm sprach.

Während der Amtszeit des sowjetischen Außenministers Eduard Schewardnadse entwickelte sich ein enges freundschaftliches Verhältnis zwischen den beiden Ministern. Wegen der schwierigen Materie der deutschen Wiedervereinigung bezeichnete Schewardnadse zwar die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen als einen „runden Tisch mit scharfen Ecken“ – nach seiner Auffassung empfanden die Teilnehmer dies „nahezu körperlich“ so –, aber dennoch gelang den sechs Ministern das Meisterstück, die scharfen Ecken in nur wenigen Monaten abzuschleifen. Hierbei halfen auch die häufigen bilateralen Begegnungen von Genscher und Schewardnadse, die an vielen, heute überraschenden Orten stattfanden: Genf, Brest, Münster, Windhuk, Berlin, Moskau, New York.

Empathie und diplomatische Umsicht

Für die sowjetische Führung war wichtig, den Menschen vermitteln zu wollen, dass ein Neuanfang notwendig ist, dass sie aber ihr Leiden und ihre Opfer während des Zweiten Weltkrieges nicht vergessen hatten. So führte Schewardnadse seinen deutschen Kollegen in die Zitadelle von Brest, an den Ort, an dem sich der Überfall auf die Sowjetunion für ihn in besonders tragischer Weise manifestiert hatte: Sein Bruder Akakij Schewardnadse war in den ersten Tagen des deutschen Überfalls als stellvertretender Kommandeur einer Schützenkompanie bei der Verteidigung der Festung Brest zusammen mit 230 sowjetischen Soldaten gefallen. Genscher wählte für ihr nächstes Treffen eine Woche später den Friedenssaal des Rathauses von Münster, in dem der Dreißigjährige Krieg mit dem Westfälischen Frieden geschlossen wurde.

Es war diese von gegenseitiger Empathie getragene Umsicht in den Verhandlungen, die zu einer neuen Ordnung in Europa führen sollte. Dieser Durchbruch ist auch gelungen. Der heutige Zustand der deutsch-russischen Beziehungen stellt die Perspektiven einer weiteren langfristigen Zusammenarbeit nicht infrage. Der verstorbene deutsche Außenminister Genscher wäre glücklich, wenn der gegenwärtige Betriebsunfall bald aus der Welt geschafft werden würde.

Frank Elbe ist Botschafter a. D., Rechtsanwalt und Publizist. Er war als Verhandler an den Zwei-plus-Vier-Gesprächen über die Einheit Deutschlands beteiligt.

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