Gorbatschow: „Die Welt hat einen kritischen Zustand erreicht“

Michail Gorbatschow, der erste und einzige sowjetische Präsident.

Michail Gorbatschow, der erste und einzige sowjetische Präsident.

Reuters
So wie es derzeit laufe, könne es nicht weitergehen. Michail Gorbatschow ruft anlässlich des 30-jährigen Jubiläums der Abrüstungsgespräche in Reykjavik zu mehr Dialog auf. Auch den Traum einer atomwaffenfreien Welt hat er noch nicht begraben. RBTH fasst seine wichtigsten Aussagen zusammen.

In einem Interview mit der Nachrichtenagentur „Ria Nowosti“ äußerte sich Michail Gorbatschow, der erste und einzige sowjetische Präsident, zum aktuellen Weltgeschehen. Der Politiker glaubt, dass die Welt in jüngster Zeit einen kritischen Zustand erreicht habe und ruft dazu auf, den Dialog zwischen Russland und den USA wieder aufzunehmen. Das Interview fand zum 30-jährigen Jubiläum der Abrüstungsgespräche zwischen der UdSSR und den USA in Reykjavik statt. RBTH gibt die wesentlichen Aussagen des Interviews wieder.

Über die Vorbereitung des Treffens in Reykjavik

„Die Lage war damals äußerst angespannt, widersprüchlich und insgesamt sehr besorgniserregend. Die allgemeine Situation bot Anlass zur Beunruhigung: US-amerikanische Schiffe versuchten, sich in unseren Hoheitsgewässern „einzunisten“, die USA führten Atomwaffentests durch, provozierten mit Spionageeinsätzen und dergleichen. Ich war überzeugt, dass es unzulässig ist, die Verhandlungen ohne Ernsthaftigkeit zu führen und das atomare Wettrüsten dabei gar fortzuführen. Deshalb habe ich vorgeschlagen, mich mit dem Präsidenten der USA abzusprechen, um die Verhandlungen wieder in Gang zu setzen. Als wir uns über das Treffen geeinigt hatten, wurden die Arbeiten zur Vorbereitung aufgenommen. In Reykjavik mussten wir schließlich konstruktive Vorschläge vorlegen.“

Moskaus Vorschlag

„Wir schlugen ein klares und prägnantes Schema für diese Übereinkunft vor: eine Kürzung des strategischen ABC-Waffenarsenals um 50 Prozent. Unter anderem waren wir bereit, die Zahl der bodengestützten Interkontinentalraketen auf die Hälfte zu verringern und ganz und gar auf Mittel- und Kurzstreckenraketen zu verzichten. Aber gleichzeitig hatten wir einen unverrückbaren Standpunkt: Es darf kein Wettrüsten im Weltraum und im Bereich der Raketenabwehr zugelassen werden.“

Reaktion der USA und Ergebnisse des Treffens

„Der Präsident, Ronald Reagan, war etwas bestürzt. Er wollte das SDI-Programm (Strategic Defense Initiative, zu Deutsch „Strategische Verteidigungsinitiative“, ein weltraumgestütztes Waffensystem, Anm. d. Red.) fortsetzen, mehr noch – er wollte unsere Zustimmung zu einer ausgedehnten globalen Raketenabwehr. Diese konnte ich jedoch nicht erteilen.“

„Zum einen haben wir in vielen Fragen ein Einverständnis erzielt. Zum anderen wagten wir einen Blick in die Zukunft, in eine atomwaffenfreie Welt.“

„Mir hat imponiert, dass sich Präsident Reagan im Laufe unserer Gespräche entschloss, und wie ich glaube auch ehrlich von der Notwendigkeit gesprochen hat, die Welt von Massenvernichtungswaffen, von allen Arten von Atomwaffen zu befreien. In diesem Punkt waren wir derselben Meinung.“

Was ist heute zu tun?

„Ja, momentan gibt es in den Beziehungen zwischen Russland und den USA eine Verschärfung, es gibt Spannungen. Das gegenseitige Vertrauen ist verlorengegangen. Ich habe meine Meinung immer wieder geäußert: Die Verhandlungen müssen mit ihrer vollständigen Agenda wieder aufgenommen werden, ohne sich auf regionale Konflikte zu beschränken – und vor allem zur Atomwaffenproblematik.“

„Ich denke, die Welt hat einen kritischen Zustand erreicht. Ich möchte keine konkreten Ratschläge erteilen, aber ich möchte bemerken: Wir müssen innehalten. Der Dialog muss wieder aufgenommen werden. Seine Beendigung war der größte Fehler. Wir müssen uns wieder auf die größten Prioritäten konzentrieren. Das sind die Verringerung der Zahl der Atomwaffen, der Kampf gegen den Terrorismus, die Verhinderung des ökologischen Kollapses. Im Vergleich zu diesen Aufgaben rückt alles andere in den Hintergrund.“

Eine atomwaffenfreie Welt ist keine Utopie

„Natürlich ist es unter den aktuellen Umständen schwierig über eine Entwicklung hin zu einer atomwaffenfreien Welt zu sprechen. Dies muss ehrlich eingestanden werden. Aber wir dürfen nicht vergessen: Solange Atomwaffen existieren, besteht die Gefahr, dass diese auch eingesetzt werden. Ob nun aus Zufall, aufgrund eines technischen Defektes oder infolge einer menschlichen Entscheidung – eines Wahnsinnigen oder eines Terroristen. Und die Auswirkungen kann man sich vorstellen. Zudem haben sich unsere beiden Staaten im Rahmen des Atomwaffensperrvertrages verpflichtet, Verhandlungen über die Reduzierung von Kernwaffen bis hin zu deren vollständigen Vernichtung zu führen. So dass das Ziel einer atomwaffenfreien Welt also keine Utopie ist, sondern ein kategorischer Imperativ. Aber dies kann nur erreicht werden, wenn die Politik und die internationalen Beziehungen entmilitarisiert werden.“

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