Opposition supporters attend a rally in Moscow, Russia, March 26, 2017.
ReutersÜberall in Russland kam es am Sonntag zu Anti-Korruptions-Protesten mit Tausenden Teilnehmern. Die größte Demonstration fand in Moskau in der zentralen Twerskaja-Straße statt. Nach Schätzungen des Innenministeriums nahmen 7 000 bis 8 000 Personen an den Protestmärschen teil, die Veranstalter äußerten sich zu der Teilnehmerzahl nicht. Der Großteil der Aktionen war von den Behörden nicht genehmigt worden, darunter auch die Moskauer Kundgebung, was zu Zusammenstößen mit der Polizei und massenhaften Festnahmen führte. Allein in Moskau nahm die Polizei rund 850 Personen in Gewahrsam.
Die Proteste waren eine Antwort auf das Schweigen der russischen Regierung zu Korruptionsvorwürfen gegen Ministerpräsident Dimitrij Medwedjew. Die Stiftung für Korruptionsbekämpfung des Oppositionellen Alexej Nawalny behauptet, der Regierungschef habe sich mittels Strohmänner ein Imperium von Immobilien und anderer Vermögenswerte im Umfang von mehr als 1,1 Milliarden Euro erschaffen. Den Film „Nennen Sie ihn nicht Dimon“, den die Stiftung dazu auf Youtube veröffentlichte und in den sozialen Netzwerken streute, wurde bislang von knapp 13 Millionen Menschen gesehen – das entspricht etwa neun Prozent der Bevölkerung des Landes.
Noch wenige Tage vor den Protesten hatte die Moskauer Polizei angekündigt, keine Verantwortung für die Ereignisse auf nicht genehmigten Veranstaltungen zu übernehmen. Vier Stunden vor Beginn der Moskauer Aktion säumten Einsatzfahrzeuge der Omon-Spezialeinheiten die Straßen. Wie scheinbar normale Spaziergänger bewegten die Demonstranten sich in Richtung Kreml, darunter auch ich. Die große Mehrheit verhielt sich friedlich und versuchte, Zusammenstöße mit den Sicherheitskräften zu vermeiden. Sie reagierten brüsk auf jegliche Vergleiche mit dem Kiewer Maidan und fotografierten sich mit den Einsatzkräften im Hintergrund.
„Wie erkennen wir, wer zu uns gehört? Sind sie von den Behörden?“ – Fragen wie diese machten 15 Minuten vor Protestbeginn in der Menschenmenge die Runde. Menschen strömten aus der U-Bahn, schlossen sich den Protestierenden an und sahen misstrauisch auf die Polizisten. „Schaut nur! Sind die nun für Korruption, weil wir dagegen sind?“, wunderte sich eine ältere Dame und zeigte dabei auf die Einsatzkräfte, die angespannt die spontane Versammlung beobachteten. Diese Demonstration war anders als die üblichen Aktionen der Opposition: Es gab weder Megafone noch einen Plan – die Menschen wussten nicht, ob sie stehen oder gehen sollten.
Viele sahen sich Livestreams von anderen Plätzen auf der Twerskaja an. „Auf dem Puschkin-Platz wurde jemand festgenommen, der ein Plakat mit der Aufschrift ,Korruption tötetʻ in der Hand hielt“, rief ein Mann mit Selfiestick und großem Smartphone der Menge zu. Er wurde schnell umringt, weil man ihn für gut informiert hielt. Ein anderer rechnete vor, dass die Einsatzkräfte wohl kaum 500 Personen in die Polizeibusse verfrachten könnten: „Um uns aufzuhalten, müssten sie uns schon umbringen.“
„Aber was wollen wir? Wollen wir kämpfen oder was?“, mischte sich ein intellektuell aussehender, junger Mann ein. „Wir wissen doch beide – die Gespräche mit der Regierung sind gescheitert. Wir wollen Veränderungen und keine Versprechungen mehr. Der Hauptgrund, warum wir hierhergekommen sind, ist die Forderung nach dem Rücktritt der Regierung, und nicht nur von Medwedjew.“
Von einer anderen Seite des Platzes erklang die Forderung zu klären, ob die Krim „nun uns gehört oder nicht“. Doch diese Initiative verlor schnell an Zulauf, denn um diese Frage gehe es bei diesem Protest nicht.
Ein Mann namens Oleg, der mit seiner älteren Mutter zu der Versammlung gekommen war, bemerkte: „Wir alle fordern eine Antwort auf den Film von Nawalnyj. Die Massenmedien und die Regierung schweigen, als ob nichts geschehen wäre. Dabei sieht es ganz so aus, als würde der Film die Wahrheit zeigen. Warum haben sie nicht dementiert, warum haben sie Nawalnyj nicht wegen Verleumdung verklagt, wenn es eine Lüge ist?“ Der Ingenieur klagte mir sein Leid: „Meine Eltern arbeiten, obwohl sie bereits Rentner sind – weil die Rente nur zum Essen reicht. Die Regierung sagt uns, wir sollen uns gedulden, aber erklärt uns nicht, wozu. Wenn sie uns doch wenigstens etwas erklären würden.“
In diesem Augenblick rief jemand zum Abmarsch auf: „Lasst uns gehen!“ Der Zug setzte sich in Bewegung, vorbei an den Polizisten, mutig in Richtung Kreml. Oleg und seine Mutter gingen mit, ohne lange nachzudenken. „Haben Sie keine Angst vor Zusammenstößen mit der Polizei?“, fragte ich. „Es reicht mit der Furcht, wir haben viel zu lange Angst gehabt. Wir müssen etwas unternehmen.“
Zweieinhalb Kilometer näher am Kreml, am Puschkin-Platz, war die Menge schon so groß, dass sie kaum mehr auf dem Fußweg Platz hatte, zugleich war die Straße durch die Polizei abgesperrt. Der Autoverkehr kam teilweise zum Erliegen, mit großem Gehupe machten die Autofahrer ihrem Ärger Luft. Hubschrauber kreisten in der Luft. Über Lautsprecher wurden die Protestierenden aufgerufen, sich in die U-Bahn zu begeben und zum Sakolniki-Park am Stadtrand zu fahren. Dieser Ort war von der Stadtverwaltung ursprünglich für die Durchführung der Aktion angeboten, aber von den Veranstaltern abgelehnt worden. Doch niemand, so schien es, wollte dieser Empfehlung nachkommen.
„Leute, das ist ein Hinterhalt!“, schrie plötzlich ein junger Mann. Aber da war kein Hinterhalt, es waren einfach nur zu viele Menschen an einem Ort. Sie wurden argwöhnisch von der Polizei beobachtet, aber auch von Mitgliedern der sogenannten „Bürgerwehr“ – Freiwilligen, die auf Ordnung achten sollen. Wie ich erfuhr, hatten sie Anweisungen für den „Fall der Fälle“, aber welche das genau gewesen sein sollen, wollte man mir partout nicht sagen. Stattdessen schlug man mir vor, „zu verschwinden“.Viele Studenten marschierten in der Menge. Die meisten versicherten, sie seien nicht wegen Nawalnyj hier, sondern wegen „der Idee“. Just in diesem Augenblick empfing ich auf dem Smartphone eine Meldung über die Festnahme Nawalnyjs. Es hieß, Demonstranten hätten mit einem Auto den Polizeibus mit dem festgenommenen Politiker blockiert, damit dieser nicht fortgebracht werden könne. Die Omon-Spezialkräfte setzten Schlagstöcke ein. Diese Neuigkeit verbreitete sich hier rasant.
„Ich bin hierhergekommen, um wenigstens irgendeine Reaktion zu bekommen, weil sie gar nichts erklären! Ehrlich gesagt, nervt das ziemlich. Die Leute zahlen Steuern, und sie (die Regierenden) finanzieren von diesen Steuern einen Lebensstil, der, gelinde gesagt, ungeheuerlich ist“, empörte sich Konstantin, ein Student an der Higher School of Economics.
Zwei Studenten in der Nähe fluchten und filmten, wie Sicherheitskräfte auf der gegenüberliegenden Straßenseite jemanden an Händen und Füßen in einen Einsatzwagen zerrten. „Und warum bist du hier?“, fragte ich einen der beiden. „So wie alle wollen wir eine Antwort haben. Das ist unsere erste Protestaktion, wir haben aus den sozialen Netzwerken davon erfahren. Und wenn wir keine Antwort kriegen, kommen wir wieder her.“ „Und wenn ihr eine Antwort bekommt, die euch nicht zufriedenstellt?“, hakte ich nach. „Keine Ahnung … Darüber haben wir noch nicht nachgedacht. Es ist einfach toll, dass all diese Menschen nicht zu Hause geblieben sind. So etwas gab es hier lange nicht mehr!“
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