Foto: Anna Grusdewa
Auf dem Holzschild an der Fernstraße M-54 steht „Ökologischer Wanderweg“. Wir beginnen unsere Tour in der Erwartung eines leichten und gemütlichen Spaziergangs zu unserem ersten Ziel, dem See Swetloje. Hier beginnt ein sorgfältig angelegter, mit Holzbalken und Sägespänen befestigter Weg. Nach etwa hundert Metern verwandelt sich der Pfad jedoch und wird, typisch für die Taiga, sehr unwegsam. Der Regen hat tiefe Furchen und Pfützen im Boden hinterlassen, umgestürzte Bäume und Geröll fordern teilweise die eigenen Sportkünste heraus. Die von lauschigen Holzhäuschen und Cafés gesäumten Wanderwege sind etwas für „Sonntagsausflügler“.
Dort, wo die schmalen Pfade des Nationalparks beginnen, eröffnet sich den Wandernden auch schon der erste Anblick einer bizarren Gebirgslandschaft. Peter Jackson hätte hier für seinen „Hobbit“ eine ideale Filmkulisse gefunden. Jergaki ist jedoch nicht nur einzigartig in seinen Fantasie beflügelnden Landschaftsbildern. Wie kaum an einem anderen Ort der Welt ist hier eine Vielfalt von Gebirgsreliefs konzentriert. Innerhalb einer Woche kann man die Hälfte der alpinen Highlights erleben, die selbst erfahrene Reisende staunen lassen.
Der Freizeit- und Tourismusbereich des Parks umfasst 160 000 Hektar, auf denen sich über 60 Bergspitzen, Gebirgskämme und Pässe aneinanderreihen. Unzählige Wasserfälle, die teilweise aus 200 Metern kaskadenartig in die Tiefe rauschen, bilden ein tosendes Naturspektakel.
Foto: Anna Grusdewa
Der Anblick der von Wolken umhangenen Felswände wechselt sich mit dem von Zedernwäldern oder Alpenwiesen und Mooren, funkelnden Gletschern mit sengender Hitze und türkisfarbenen Seen mit glasklaren Gebirgsbächen ab. Ein Wasser wie im Jergaki ist in keiner Stadt der Welt zu kaufen. Es ist reinstes Gletscherwasser, unvergleichbar im Geschmack.
Schlaflos in der Lagerstätte
„Habt Ihr das gehört?“ Aus dem roten Nachbarzelt, vielleicht 100 Meter von
unserer Lagerstätte entfernt, ertönt das durchdringende Scheppern von Metallgeschirr und ein langgezogener Aufschrei des Zeltbewohners. Die lähmende Angst lässt keinen Zweifel – ein Bär hat sich dazugesellt. Zitternd, allerdings nicht vor Kälte, wird dir in deinem Zelt unweigerlich bewusst: Der Braunbär ist kein Mythos aus Sibirien, kein abgegriffenes Stereotyp, sondern ein sehr reales, sich auf leisen Sohlen heranschleichendes, aber schwer und laut atmendes Raubtier. Und es ist in jedem Fall geraten, ihm nicht aus Nachlässigkeit zu begegnen.
Das „Bärenproblem“ ist im Jergaki durchaus kein unbekanntes. Das wilde Tier wurde hier schon vor Langem von unachtsamen Touristen angefüttert. Es hat gelernt, wie sich eine Dose gezuckerter Kondensmilch einfach mit einer Kralle öffnen lässt, es hat verschiedene Sorten Schmalzfleisch kennen- und Süßigkeiten lieben gelernt. Und vor allem – es hat seine Scheu vor den Menschen abgelegt.
Foto: Anna Grusdewa
So besuchte das Tier – übrigens ein junger Bär –, wie später anhand der Spuren ersichtlich war, unsere Nachbarn, weil diese es nicht geschafft hatten (oder zu bequem waren), ihren Proviant auf eine Zeder zu hängen. Der Bär öffnete den herumliegenden Rucksack, leerte die Ölflasche und schnaufte in der nächsten Nacht ein weiteres Mal in Richtung unserer Zelte. Ein großer Hund jedoch, der eine andere an unserem Ufer angekommene Touristengruppe begleitete, jagte den kleinen Tollpatsch mit lautem Gebell in den nächsten Nadelwald.
Der Jergaki wird immer beliebter. Nach Aussage der Verwaltung des Naturreservats steigt das Touristenaufkommen jährlich um zehn bis 15 Prozent. Das bedeutet auch, dass die Zahl der unerfahrenen Besucher dieser Region zunimmt. Das Bärenproblem bleibt also aktuell. Die Touristen haben es zu verantworten.
Lebendige Mythologie
Der Jergaki ist außerdem ein Reich der Mythen und magischen Taiga-Geschichten. Der Ethnograf Mongusch Kenin-Lopsan, der lange zum tuwinischen Schamanismus geforscht hat, erläutert, dass der Sajaner Gebirgskamm Jergaki für die Tuwiner ein heiliges Gebiet darstellte, in dem Schamanen eingeweiht wurden. Heute bieten verschiedene Yoga-Reisen in dieses legendäre Gebirge ihre „Einweihungszeremonien“ an. Man beobachtet also im Jergaki am frühen Morgen gelegentlich kollektive Asana-Praxis oder hört aus dem Wald schamanische Gesänge.
Das Touristen-Idol: einen alten Baumstumpf mit eingeschnitztem Gesicht und einem weit aufgerissenem Maul. Foto: Anna Grusdewa
Aber auch Touristen, die den Jergaki nicht für spirituelle Praktiken bereisen, sondern hier einfach Erholung suchen, verlassen ihre Reiseorte nicht, ohne etwas aufgestellt, ausgehöhlt oder geschnitzt zu haben, das für sie geheime Kräfte besitzt. Verbreitet ist auch das Anbinden bunter Schleifen an Bäumen und Sträuchern. An der Raststätte Strelka, an der die Flüsse Tajgischonok und Lewyj Tajgisch zusammenfließen, entdecken wir das eigentümliche Touristen-Idol: einen alten Baumstumpf mit eingeschnitztem strengem Gesicht und einem weit aufgerissenem Maul.
Wegweiser für den Sternenhimmel
Unsere zweiwöchige Tour ist glücklicherweise ohne dramatische Zwischenfälle verlaufen. Trotz nasser Schuhe, vom Rucksack brennender Schultern und nach dem Bezwingen von Gebirgspässen rauchender Füße möchten wir uns vom Jergaki eigentlich nicht verabschieden. Wir kochen Kissel mit selbst gepflückten Heidelbeeren und ich bedauere wieder einmal, dass ich keine Sternenkarte mitgenommen habe. Bei klarem Wetter zeigt sich im Jergaki ein Himmel mit funkelndem Lehrbuch der Sternenkunde.
Die dem Jergaki am nächsten liegende Städte sind Kysyl, Abakan, Minusinsk und Krasnojarsk. Am bequemsten ist die Anreise von Abakan. Mit dem Auto dauert die Fahrt von der Hauptstadt Chakassiens zwei bis zweieinhalb Stunden über die Fernstraße Abakan-Kysyl (M-54, bekannt auch als Ussinski-Trakt). Das Auto kann man für einen Pauschalpreis auf einem Parkplatz abstellen. Die gleiche Strecke kann man auch mit dem Fernbus Abakan-Kysyl zurücklegen. Je nach Tour bis zu den Haltestellen Tormosakowski Most, Reka Tuschkantschik oder Rutschej Podjomnyj.
Im Sommer zieht es die meisten Touristen nach ihrer Ankunft direkt in die Berge, wo sie in Zelten wild campen dürfen. Es gibt im Jergaki jedoch auch sechs Touristenzentren, die im Sommer Tourenritte und Wanderungen anbieten und im Winter Reisende in einer gemütlichen Anlage von Hütten mit Café und Banja unterbringen. Im Winter ist der Jergaki vor allem für Abfahrt- und Langlaufskifahrer, Snowboarder und Tiefschneewanderer attraktiv.
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