Alte Technik aus den USA, längst vergessene Qualitätsstandards und der rauborstige Geist des Sozialismus bei Service und Ambiente: Machen Sie sich darauf gefasst, in das Gaststättenleben der Sowjetunion der Sechzigerjahre einzutauchen. Was Sie auf diese Zeitreise mitnehmen müssen, sind vor allem Appetit, ein bisschen Russisch, Sinn für Humor und ein paar Münzen in der Tasche – die Preise hier sind auf Sowjetniveau, Kartenzahlung kennt die Welt von damals nicht.
Krapfen im Sowjetstil
Adresse: Bolschaja Konjuschennaja-Straße 25
Leckeres Gebäck, in Fett gebraten, mit Zuckerpuder bestreut, außen knusprig, innen luftig – das sind die Pyschki. Vom Geschmack her erinnern sie an Berliner Pfannkuchen, von der Form her sind sie wie Donuts, mit denen sie über mehrere Ecken verwandt sind.
Die Geschichte der Pyschki beginnt in den Dreißigerjahren mit Anastass Mikojan. Der Sowjetminister baute das öffentliche Verpflegungssystem (Obschtschepit) in der UdSSR auf. 1936 besuchte der Minister die USA und brachte von seiner Reise die Backtechnik für Donuts mit. Die Backautomaten wurden in Stadtcafés aufgestellt, eines davon arbeitet bis heute in der „Pyschetschnaja“ – seit 1958, dem Gründungsjahr des Backcafés. Das ist auch das Geheimnis des authentischen Geschmacks hiesiger Pyschki.
Das Wichtigste in dieser Pyschki-Bäckerei ist aber die Atmosphäre: Ewig lange Schlangen, altbackenes Personal, statt Servietten (Mangelware in der Sowjetunion) stapeln sich auf den Tischen zugeschnittene Papierblätter. Zu den Pyschki bestellt man am besten das Imbiss-Getränk der Sowjetzeit schlechthin: einen schäumenden Kaffee-Ersatz mit süßer Kondensmilch. Nehmen Sie nun Platz an einem der Stehtische (Sitzplätze sind moderner Schnickschnack) und beobachten Sie, wie die Liebe zu den Pyschki alle Gesellschaftsschichten an einem Ort versammelt.
Piroggen-Snack an der Moskau-Allee
Adresse: Moskowskij Prospekt 142
/ Getty images
Seit 1956 gibt es Piroggen in der „Piroschkowaja“ am Moskowskij Prospekt. Der Schnellimbiss liegt fernab des Stadtgetümmels, Touristen finden selten hierhin, weshalb der Mikrokosmos dieser Piroggen-Bar bis heute unberührt geblieben ist.
Die Kunden und das Personal ähneln einander: Die Gäste dieses Cafés kommen seit 30, 40 Jahren hierhin. Sie leben, lernen, arbeiten um die Ecke. Sie heiraten sogar gleich nebenan: Im selben Haus befindet sich das Bezirksstandesamt. Die Verkäufer arbeiten seit Jahrzehnten hier, ohne an die Rente auch nur zu denken. Unangefochtene Spitze ist die 77-jährige Waleria Romanowa: Seit 33 Jahren leitet sie das Café. Da wundert es nicht, dass in der „Piroschkowaja“ alles beim Alten bleibt. Wie 1956 auch kommt der Bäcker zwei Stunden vor Ladenöffnung, um den Teig anzusetzen. Jeden Morgen kurz vor acht bildet sich eine Schlange vor dem Eingang, auf dem Parkplatz davor drängen sich Taxen, Streifenwagen, Luxuskarossen und alte Ladas. Innen herrscht buntes Treiben, es geht freundschaftlich zu, man kennt sich.
Gehen Sie erst an die Kasse und geben Sie dort Ihre Bestellung ab. Danach an die Theke, wo die Verkäuferin blitzschnell Ihren Teller füllt. Die Haus-Hits: Teigtaschen mit Hering, Käse oder Kraut. Und die runden Beljaschi mit Fleisch, ein ursprünglich tatarisches Gericht, das seit anno dazumal fest zum Petersburger Fastfood-Repertoire gehört.
Kulturmix bei „Salchino“
Adresse: Wosnessenskij Prospekt 55
/ Photo courtesy: Salkhino restaurant
Gebratenes Fladenbrot in Halbmondform mit Fleischfüllung – das sind Tschebureki. Krimtataren haben die Sowjetküche um dieses Gericht bereichert, am häufigsten angeboten wird es seitdem aber in georgischen Gaststätten. Die Vermischung von Kulturen war für die Sowjetunion typisch. Der Staat versuchte die ethnischen Unterschiede zu nivellieren, um eine einheitliche Sowjetnation zu bilden.
Deshalb ist „Salchino“, die beste Tschebureki-Braterei der Stadt, im georgischen Stil gehalten: Gusseisen-Leuchter an der Decke, geprägte Kupfertafeln an den Wänden, würdevolle Kellner, die davon überzeugt sind, dass nur ein langsamer Service ein guter Service sein kann. Doch das Warten lohnt sich: Die Tschebureki in „Salchino“ sind ebenso schmackhaft wie die Erinnerungen hiesiger Stammgäste an ihre Jugend, die einst stundenlang anstehen mussten, um einen Platz in diesem beliebten Lokal zu bekommen.
Heiße Tschebureki in der einen, ein Glas georgischer Rotwein in der anderen Hand – fertig ist das allseits erschwingliche und internationale Gaumenfest nach Sowjetart.
Endzeitstimmung im Eierpfannkuchen-Paradies
Adresse: Gagarinskaja-Straße 13
/ Marina Mironova
Der Eierpfannkuchen-Imbiss „Russkie bliny“ richtet sich bei den Arbeitszeiten nach dem Personal, nicht nach den Gästen: Am Wochenende ist das Café geschlossen. Überhaupt gibt es dort nicht mehr als das notwendigste Mindestmaß an Service, dazu ein tristes Interieur. Was aber den Geschmack angeht, gelten hier noch die alten Sowjetnormen der Gastronomie. Die Qualität der Pfannkuchen ist hervorragend!
Das alles sind Merkmale des Sowjet-Fastfoods der Achtziger – jener sonderbaren Zeit, als die Sowjetutopie wie eine Seifenblase zu platzen drohte, aber sich niemand vorstellen konnte, dass der Übergang in eine neue Zeit zum Greifen nah ist. Probieren Sie hier die Haus-Bliny mit gehacktem Hering – so schmeckt das letzte Jahrzehnt des Sowjetreichs.
Schnaps-Schenke im Herzen der Stadt
Adresse: Stremjannaja-Straße 22
/ Marina Mironova
Fastfood und Alkohol, passt das zusammen? Unbedingt! Einen Kurzen vor der Arbeit, einen in der Mittagspause und einen nach Feierabend, dazu einen einfachen Snack für ein paar Groschen. Das alles gab es in der „Rjumotschnaja“ an der Stremjannaja-Straße im Zentrum Sankt Petersburgs. Die Kneipe hat bis heute nichts an ihrem Charme einer klassischen Sowjetkneipe eingebüßt, wo Hochschulprofessoren, Schriftsteller und einfache Arbeiter an einem Tresen tranken. Auch die Preise von damals sind geblieben: Das Paar „Wodka + Butterbrot“ kostet keine zwei Euro.
Doch das ist nur die Außenseite. In Wirklichkeit ist die „Rjumotschnaja“ nicht bloß ein billiger Drink in einer Spelunke. Vielmehr ist sie ein kulturelles Unikum aus Leningrad. Kunst und Gedankengut standen in der Sowjetunion unter dem strengen Vormund der Regierung. Freies Denken war erlaubt, aber bitte nur in eine bestimmte Richtung. Der Großteil der intellektuellen Elite lebte unter dem Dauerdruck von auferlegter Unmündigkeit und Restriktion. Seit den Sechzigerjahren waren die Schnaps-Schenken ein metaphysischer Ort für die verlorene Generation der Sowjet-Intelligenzija. Dort konnte man mit einem fremden, aber geistig verwandten Menschen darüber sprechen, worüber man besser schweigen sollte.Die „Rjumotschnaja“ ist ein Echo jener Zeit, als ein durchschnittlicher Arbeiter klassische Gedichte aus dem Gedächtnis rezitierte und Unbekannte miteinander über die Vergänglichkeit des Seins stritten. Und wenn Sie sich auf Ihrer Zeitreise mit jemandem auf Deutsch unterhalten wollen, so sind die Chancen groß, dass Sie hier den geeigneten Gesprächspartner finden. Übrigens: Einen besseren Stadtführer, dem nicht nur das Gesicht, sondern die Seele der Stadt vertraut ist, finden Sie sonst nirgends. Aber denken Sie dran: Alkohol kann schädlich sein, essen Sie häufiger eine Kleinigkeit dazu.
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