/ TASS/Natalia Garnelis
Über einen gepflasterten Weg treibt eine Babuschka mit Kopftuch eine Ziegenherde vor sich her. „Sie haben aber einen schönen Ziegenbock“, freut sich ein Tourist mit weißem Panamahut und greift nach der Kamera. „Ja, ja, kommt ganz nach dir“, knirscht die Alte. „Lass das mal, mit dem Foto. Davon werden meine Ziegen krank.“
Sie stampft mit dem Gehstock auf das Pflaster und zerrt einen riesigen Bock an der Leine hinter sich her – bis zur Brust reicht ihr das Tier. Die Beiden ziehen ihres Weges den Kirchenberg hinauf, zwischen einem schiefen Glockenturm und einem Holzhäuschen mit Fensterschnitzereien entlang.
Von jener Klippe mit dem weißen Gotteshaus schauen gut 50 Menschen wie verwünscht auf den Fluss, der zwischen rauen, von Häuserdächern, Kirchenkuppeln und Tannenspitzen zerklüfteten Hügeln hervorblitzt.
/ TASS/Natalia Garnelis
Vor 120 Jahren malte ein damals mittelloser Künstler diese Landschaft. Sein Name war Isaak Lewitan und mit seinen Werken sicherte er sich schließlich einen Platz unter den besten russischen Landschaftsmalern. Er war es, der die Aussicht vom Kirchenberg im kleinen Städtchen Pljos zu einem der gefragtesten Sinnbilder Russlands machte.
Pljos ist ein winziges Städtchen, eine der kleinsten in Russland, vier Autostunden von Moskau entfernt. Auf 2 500 Einwohner kommen hier neun Kirchen, fünf Museen, ein Theater und eine große Sammlung bunter Holzhäuschen, die über die Hänge der Hügel und Schluchten verstreut sind. Schmale Gassen fallen hier in atemberaubendem Winkel zur Wolga hinab – an dieser Stelle ist er schmal, dieser Urstrom der russischen Landschaft und Kultur.
/ TASS/Dmitri Feoktistov
Das berühmteste Pljosser Anwesen ist das Haus mit dem Mezzanin am Wolga-Ufer, das einst dem Kaufmann Solodownikow gehörte. Hier machte 1888 der 28-jährige Lewitan Rast mit seiner Freundin Sofia Kuwschinnikowa. Das Moskauer Pärchen war auf der Wolga gereist –auf der Suche nach inspirierenden Landschaften. Die Suche schien vergeblich, bis Lewitan eines Sommerabends vom Schiffsdeck aus einen waldigen Berg erblickte, der von einigen Häusern umgeben war. „Wir gehen von Bord“, sagte er seiner Begleiterin entschlossen, ohne sich beim Kapitän wenigstens nach dem Namen des Städtchens erkundigt zu haben.
Das Fremdenzimmer im Kaufmannshaus füllte sich mit immer neuen Leinwänden: Jeden Morgen stellte Lewitan seine Staffelei auf den Hügeln von Pljos auf. Und im Herbst schon wurde der verarmte Künstler mit der Ausstellung seiner Pljosser Landschaften über Nacht berühmt.„Ach, wenn ich doch nur Geld hätte, dann würde ich dem Lewitan sein „Dorf“ abkaufen, dieses graue, jämmerliche, verlorene, verhunzte – und doch atmet es eine derart unbeschreibliche Wonne, dass man sich davon nicht losreißen kann“, klagte der russische Schriftsteller Anton Tschechow in einem Brief an seinen Bruder.
Nach Lewitans Erfolg strömten erst Künstler aller Couleur nach Pljos, dann kam auch solideres Publikum aus Moskau, Sankt Petersburg, Nischni Nowgorod und Kasan. Die Kaufmannshäuser wurden aufgekauft, von Schriftstellern, Komponisten, Kunstliebhabern. In den lokalen Theatern spielten Schauspieler aus der Hauptstadt. Pljos verwandelte sich in einen Kurort.
Die ebenste Stelle in dem hügeligen Pljos ist die drei Kilometer lange Uferpromenade, von Kaufmannsvillen aus dem späten 19. und frühen 20. Jahrhundert gesäumt. Die Villa Nowoschilows, das Anwesen Moissejews, das Haus der Filosofowa – diese ehemaligen Herrenhäuser sind heute der größte Arbeitgeber der Stadt, gehören sie doch der Hotelkette Sobornaja sloboda, die dem Städtchen an der Wolga vor 20 Jahren neues Leben eingehaucht hatte.
/ Danil Litvintsev
Das Restaurant des örtlichen Jachtklubs wahrt andächtig eine Widmung von Dmitri Medwedew im Gästebuch: „Danke, alles hat gut geschmeckt“, schrieb der Politiker, zu jener Zeit russischer Präsident. Und an einem der Gästehäuser glänzt ein kleines Schild zu Erinnerung, dass das Prinzenpaar Kent hier einst zu Gast war. Die Einheimischen erzählen gern, wie sich die Prinzessin an den allgegenwärtigen Pljosser Ziegen erfreute, die frühmorgens die Chrysanthemen vor ihrem Fenster fraßen. Einen Haken hat die Idylle allerdings: Eine Übernachtung im restaurierten Anwesen kostet schnell mal bis zu 1 500 Euro.
Die Villa des Kaufmanns Solodownikow an der Wolga-Promenade wurde nicht in ein Hotel verwandelt. Jenes Haus, in dem Lewitan drei seiner Schaffenszeiten von 1888 bis 1890 verbrachte und an die 200 Bilder malte, die heute in den besten Museen der Welt ausgestellt werden, ist inzwischen selbst ein Museum. Hier, in der Einrichtung eines Kaufmannshauses aus dem 19. Jahrhundert, zeigt man einige Werke von Lewitan und seinen Schülern.
Und das benachbarte Museum der Landschaftsmalerei zeigt die Klassiker der russischen Schule: Sawrassow, Bogoljubow, Schukowski, Schischkin, Clodt – eine beachtliche Sammlung für ein Städtchen mit der Einwohnerzahl zweier Wohnblocks in der Hauptstadt.
/ Danil Litvintsev
Jeden Tag von Mai bis Oktober legen am Pljosser Steg weiße Kreuzfahrtdampfer an. Die Wolga ist die wichtigste Schiffsader in ganz Russland. Die Reisenden haben nur wenige Stunden, um alle Tischdecken aus Leinen in den Souvenirläden und die geräucherten Brachsen bei den Fischern aufzukaufen – und natürlich noch einen Blick in die wichtigsten Museen zu werfen.
Erfahrene Urlauber, die das Glück hatten, hier ein Häuschen zu kaufen oder zum Preis einer Kreuzfahrt für ein paar Nächte zu mieten, schauen von oben herab auf dieses Treiben. Am Wochenende gönnen sie sich die Aufführungen des hiesigen Theaters und studieren danach die Speisekarten der lokalen Restaurants.Doch das zentrale Ritual, das die zufälligen Besucher von den Kreuzdampfern mit den Dauergästen des kleinen Städtchens verbindet, ist die allabendliche Wallfahrt zum weißen Gotteshaus auf dem Kirchenberg. Von der Anhöhe, die mit Birken bewachsen ist, erstreckt sich die Sicht auf die Hälfte aller hiesigen Kirchen, auf die Bäume, die die Hänge herunterlaufen, und die Hütten, die sich zwischen ihnen verstecken. Bis zum Horizont fließt die Wolga und bildet einen glatten Schnitt – im Russischen ein „Pljos“. So entsteht jene Landschaft, die – Lewitan sei es gedankt – zum Sinnbild für das geheime russische Hinterland geworden ist.
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