Der Medaillenspiegel ist der Maßstab, an dem sich russische Athleten bei großen Wettkämpfen messen lassen müssen – ein Erbe der Sowjetunion. Der Sport war damals Plattform für die unterschiedlichen politischen Systeme, um Überlegenheit demonstrieren zu können. Es war Pflicht für die sowjetischen Sportler, die Besten zu sein. Insgesamt fünf Mal gelang es ihnen, den Medaillenspiegel bei Olympischen Spielen anzuführen: 1956 in Melbourne, 1960 in Rom, 1972 in München, 1976 in Montreal und 1988 in Seoul.
Die russische Geherin Olga Kaniskina wurde nach einem positiven Dopingtest suspendiert. Foto: Nina Zotina/RIA Novosti
Die Idee des Wettlaufs mit dem Westen ist im modernen Russland weiter populär. Vor jedem Wettkampf müssen die Präsidenten der Spitzenverbände Zielvereinbarungen beim Ministerium für Sport einreichen. Dann heißt es abwarten. Ihre persönliche Zukunft hängt davon ab, inwieweit die Ziele erreicht werden. Nach der Olympia-Pleite in Vancouver 2010 mussten sechs Präsidenten der Spitzenverbände ihre Posten räumen.
Daher spüren Sportler und Trainer einen immensen psychologischen Druck. Nicht jeder ist dem gewachsen. Die Dopingskandale der letzten Zeit könnten eine Folge dieses Erfolgsdrucks sein, meint ein russischer Trainer, der seit langer Zeit in Finnland arbeitet und anonym bleiben möchte. „Viele anrüchige Trainer schlagen ihren Schützlingen vor, zu dopen. Das ist Teil eines Systems, das man längst hätte abschaffen müssen“, kritisiert er unter anderem die Zielvorgaben.Anastasia Kuzmina. Foto: Iliya Pitalev/RIA Novosti
Die meisten russischen Trainer passen ihre Programme ihren Schützlingen nicht individuell an und folgen dem Grundsatz „nur die Stärksten überleben“. Dies führt dazu, dass viele Sportler bereits im Jugendalter als aussichtslos aussortiert werden.
Viele von ihnen beweisen später ihrem Heimatland genau das Gegenteil, aber unter fremder Flagge. Ein Beispiel dafür ist die Olympiasiegerin im Biathlon Darja Domratschewa, die heute für Weißrussland startet. Dasselbe gilt auch für Anastasia Kuzmina, die für die Slowakei antritt, und Snowboarder Juri Podlatschikow, der 2014 für die Schweiz Olympiagold holte.
„In Russland hätte ich keine Chance gehabt, eine Medaille zu gewinnen, geschweige denn eine aus Gold“, fasst Kuzmina ihre Erfahrungen in der russischen Nationalmannschaft zusammen. Der Karriereknick kam mit der Familiengründung und der Geburt ihres Kindes. „Ich habe keine Unterstützung seitens der Trainer bekommen“, bedauert sie im Gespräch mit RBTH.Auch Sergej Iwanow, Vorsitzender der russischen Präsidialverwaltung, sieht in schwachen Trainern ein Problem. Iwanow ist Basketball- und Eishockey-Fan. „Wir bilden unsere Trainer nicht gut genug aus. Dieses Problem muss beseitigt werden, denn wir können nicht immer ausländische Trainer nach Russland holen“, sagt er.
Andrej Arschawin. Foto: Igor Kataev/RIA Novosti
Heute hochgelobt, morgen verdammt. Das hat der russische Fußballer Andrej Arschawin erlebt. Er gehörte zu den besten Spielern der Europameisterschaft 2008 und war maßgeblich am Sieg der russischen Fußballnationalmannschaft bei einem Konföderationen-Cup beteiligt. Seinem Verein FK Zenit Sankt Petersburg verhalf er zum Gewinn des Titels im Uefa-Pokal 2008. Während seiner Zeit bei Arsenal London galt er als Weltklassespieler. Für Millionen russischer Fans war er ein Idol.
Das vorzeitige Aus der Sbornaja bei der Europameisterschaft 2012 allerdings veränderte alles. Nach der Niederlage im Spiel gegen Griechenland sagte Arschawin an die Fans gerichtet: „Es ist ihr Problem, dass die Mannschaft ihre Erwartungen nicht erfüllt hat.“ Die russischen Fans waren empört. Dieser Satz machte aus dem Helden einen Außenseiter. Bei jedem Ballkontakt wurde der Fußballer in den russischen Stadien nun von seinen früheren Anhängern ausgepfiffen. Um zusätzlichen Druck auf die Nationalmannschaft zu vermeiden, entschied sich der damalige Trainer Fabio Capello dazu, auf Arschawin zu verzichten. Die Karriere des Sportlers geht seitdem steil bergab.Die russische Biathletin Swetlana Slepzowa zog sich den Unmut vieler Sportbegeisterter zu, als sie äußerte, in erster Linie für sich und nicht für ihr Land oder die Zuschauer zu kämpfen. Der Sturm der Entrüstung ließ nicht lange auf sich warten. Auch der Fußballer Igor Akinfeew, der Eishockeyspieler Ilja Kowaltschuk, Tennisspieler Nikolaj Dawydenko und Eiskunstläufer Jewgeni Pljuschtschenko kennen solche Probleme.
Ein russischer Fußballer, der nicht genannt werden möchte, hat besonders schlechte Erfahrungen mit enttäuschten Fans gemacht: „Es wurden Steine auf mein Auto geworfen – angeblich, weil ich zu arrogant sei. In Russland verdienen Fußballspieler nun mal viel Geld. Es ist verdient, nicht gestohlen. Aber das verstehen einige Fans nicht.“
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
Abonnieren Sie
unseren kostenlosen Newsletter!
Erhalten Sie die besten Geschichten der Woche direkt in Ihren Posteingang!