Geheime Wissenschaft: die sowjetische Nuklearphysik

Einer der bekanntesten Atomphysiker in Sowjetunion Andrej Sacharow. Foto: Jurij Zaritowskij / RIA Novosti

Einer der bekanntesten Atomphysiker in Sowjetunion Andrej Sacharow. Foto: Jurij Zaritowskij / RIA Novosti

Nuklearphysiker in der Sowjetunion lebten in geheimen Städten und duften das Land nicht verlassen. In ihrer Abgeschiedenheit entwickelten sie die wissenschaftlichen Grundlagen für den Aufstieg der Sowjetunion zur Atommacht.

Mit der Gründung des Physikalisch Technischen Instituts, kurz Fistech, im Jahre 1920 im heutigen Sankt Petersburg begann der Aufstieg der Nuklearphysik zu einer der bedeutendsten Wissenschaftszweige der Sowjetunion. Die Nuklearphysik galt als „hohe Wissenschaft“. Im Laufe der Zeit entstanden weitere Forschungszentren, in denen die Wissenschaftler abgeschieden von der Außenwelt arbeiteten und lebten. Ins Ausland reisen durften sie nicht.

Leben in geheimen Städten

Der technologische und intellektuelle Fortschritt der Sowjetunion im 20. Jahrhundert wurde von Menschen vorangetrieben, die nach Sonderregeln leben mussten. Naturwissenschaftliche Forschung und insbesondere Forschung im Bereich der Kernphysik war nicht Sache der Allgemeinheit. Vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg wurde dieser Bereich mit allen erforderlichen Mitteln ausgestattet, der finanzielle und personelle Aufwand war enorm. In diesen Bereich wurden mehr Ressourcen gesteckt als zum Wiederaufbau des Landes nach dem Krieg. Das machte die Nuklearphysik als Arbeitsplatz für viele attraktiv.  Dennoch blieb diese Wissenschaft in der Sowjetunion Geheimsache. Kontakte zwischen Wissenschaftlern und der übrigen Bevölkerung kamen kaum zustande.

Die Anzahl derer, die in der UdSSR in der Wissenschaft und Technik tätig waren, betrug in den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts bis zu zehn Millionen Menschen, wenn man die Beschäftigten in der Produktion und der Lehre mitzählt. In der Nuklearphysik haben dabei nicht mehr als etwa eine Million Menschen gearbeitet.   

Wer waren diese Menschen, die in Geheimstädten lebten und die Sowjetunion zur Atommacht beförderten? Es war die Generation der zwanziger und dreißiger Jahre, die Kriegsgeneration. „Alle Pioniere der Wissenschaft hatten den Krieg erlebt. Mancher als Kind, mancher mittendrin als Soldat im Russlandfeldzug“, erzählt Andrej Sorin. „Diese Erfahrung, auf sich allein gestellt einer großen Gefahr gegenüberzustehen, von der Soldaten, die an der Front waren, oft erzählen, hat sie ihr ganzes Leben lang begleitet. Und auch die Arbeit von Nuklearphysikern war mit echten Risiken verbunden. Ihre körperliche Gesundheit war ständig in Gefahr.“

Die sowjetischen Wissenschaftler galten nicht unbedingt als sehr politisch. Im Grunde aber legten die Angehörigen der sowjetischen wissenschaftlich-technischen Intelligenzija der Nachkriegszeit viel Wert auf Freiheit, wenn auch nicht im traditionellen liberalen Sinne.

Die Ausbildung beeindruckte sogar die USA

Viele auch international bekannte Forscher der Atomphysik stammten aus der Sowjetunion. Einer der bekanntesten ist Andreij Sacharow, einer der „Väter“ der russischen Atombombe, der später vor allem durch seine gesellschaftspolitischen Ansichten bekannt wurde und dafür 1975 den Friedensnobelpreis erhielt. Er kam als junger Wissenschaftler in die Forschungsgruppe des bekannten theoretischen Physikers Igor Tamm, der Sacharow noch beim ersten Treffen mit seiner Idee begeisterte, dass Uran nicht verteilt, sondern blockweise im Reaktor gelagert werden sollte. Dies war eine wichtige Entdeckung für die Nuklearphysiker dieser Zeit, und Andreij Sacharow wurde in die Forschungsgruppe zur Entwicklung Thermonuklearer Waffen aufgenommen. Die darauffolgenden 20 Jahre arbeitete Sacharow ununterbrochen unter strengster Geheimhaltung zunächst in Moskau, später in einem speziellen Forschungszentrum.

Die internationale Fachwelt beeindruckte neben den Forschungsergebnissen vor allem auch das Ausbildungswesen in der Forschung. „Als 1955 Blochinzew, der Direktor des Geheimlabors ‚B‘, auf der Genfer Konferenz das erste Atomkraftwerk der Welt vorstellte, waren die ausländischen Experten nicht besonders beeindruckt, sie hatten so etwas bereits in den USA gesehen“, erzählt die Wissenschaftlerin Galina Orlowa. „Aber die Fähigkeit der Sowjetunion, in Rekordzeit massenweise hochqualifizierte Kräfte auszubilden, sorgte für Furore. Ein Mitglied der amerikanischen Delegation merkte in seinem Bericht an, dass ‚es bei uns derzeit nichts Vergleichbares gibt‘. Die Ausbildung, die einer unserer Mitarbeiter als ‚gymnasial‘ beschrieb, womit er die engen zwischenmenschlichen Kontakte zwischen den Studenten und den Lehrern meinte, die direkt aus dem Labor oder dem Versuchsgelände in den Hörsaal liefen, war eine Ausbildung für die Zukunft. Es gab keine starren Lehrbücher. Das alles schuf eine einzigartige Atmosphäre.“

Nachwuchsprobleme gibt es nicht

Die zielstrebige alte Forschergeneration hat noch immer aktiv Einfluss auf die junge Generation. „Viele unserer Gesprächspartner, die in den zwanziger oder dreißiger Jahren geboren sind, arbeiten noch immer in ihrem Forschungsinstitut“, sagt Orlowa.

Die Nuklearphysik zieht noch immer viele Menschen an. Auch Schüler, die sich nicht so sehr für die Wissenschaft interessieren, gehen an die Forschungsinstitute. Sie zeichnen sich durch ein rein technisches Weltbild, Formalismus und den Wunsch nach einer Karriere aus. Oft sind es die Nachkommen der großen Wissenschaftler. „Die Nuklearphysik war bereits in den 1970er-Jahren der erste Bereich mit bedeutend hoher sozialer Mobilität“, stellt Galina Orlowa fest.

Aber nicht alle treten in die beruflichen Fußstapfen ihrer Eltern. Der Enkel eines Mitarbeiters am Institut für Physik und Energie beispielsweise hat auf den Rat seines Großvaters hin ein Studium am Physikinstitut Moskau aufgenommen. Dort studierte er einige Zeit, doch dann brach er das Studium ab. Aus ihm wurde ein glücklicher Koch.

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