Auf einem schmalen Pfad am Rande des Abgrunds sei das Land, sagte Boris Jelzin auf der ersten Regierungssitzung der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik am 15. November 1991 kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Der erste russische Präsident bezeichnete die neu gebildete Regierung als ein Reformkabinett, dessen vordringliche Aufgabe essei, die in sich zusammenstürzende sowjetische Planwirtschaft durch radikale Reformen in die Marktwirtschaft zu überführen. Benannt wurden diese Reformen nach dem damaligen Vizepremier und Wirtschaftsexperten Jegor Gaidar.
Heute, 25 Jahre nach den Reformen, wertet die russische Öffentlichkeit diese durchweg als negativ: 58 Prozent der Russen sind laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum dieser Ansicht. Die Marktwirtschaft ist zwar eingeführt worden, einem Bericht der russischen Kartellbehörde zufolge kontrollieren aber noch immer Staatsunternehmen 70 Prozent der Wirtschaft.
8. Dezember 1991: Im Abkommen von Beloweschskaja Puschtscha wurde die offizielle Auflösung der Sowjetunion beschlossen. Foto: Jurij Iwanow/RIA Nowosti
Anfang der Neunzigerjahre kam es zum Machtkampf zwischen Boris Jelzin und dem damaligen russischen Parlament, dem Obersten Rat – die Wirtschaftsreformer waren ganz auf der Seite des Präsidenten. Und das habe eine effektive Umsetzung der Reformen verhindert, sagt der Politologe Gleb Pawlowskij, Vorsitzender der Stiftung für effektive Politik, einer nichtstaatlichen russischen Denkfabrik.
„Die vermeintlich liberalen Reformen erfolgten auf autoritäre Anordnung von oben. Jelzin trat nicht für politische Reformen ein, sondern für seinen Machterhalt. Die Reformen wollte er strikt auf den Wirtschaftsbereich beschränken“, sagte Pawlowskij RBTH. Die Einheitsführung zu erhalten, sei die maßgebliche Tendenz gewesen – zum Nachteil des Pluralismus. Bis der Konflikt zwischen Jelzin und dem Parlament 1993 eskalierte und mit dem Panzerbeschuss des Weißen Hauses in Moskau endete.
Schwere Nebenwirkungen
Die Oligarchie blühte. Staatsbetriebe wurden in Scheinausschreibungen weit unter ihrem Wert gekauft. „Unbegründet niedrige Preise auf Staatsaktiva, falsifizierte Ausschreibungen, niedrige Effektivität der Veräußerungen“ waren die Mängel der Privatisierungsausschreibungen laut einem Bericht des russischen Rechnungshofes von 2004. De facto war die Privatisierung in vielen Bereichen illegitim. Ein großer Teil der Russen spricht sich heute, 25 Jahre danach, für eine Revision der Privatisierungsergebnisse aus, so eine Umfrage der Stiftung Öffentliche Meinung. „Heute hat die Privatisierung in den Augen der Öffentlichkeit keine Legitimation mehr. Das ist ein kolossales Problem“, sagte Pjotr Awen, Mitinitiator der damaligen Reformen in einem Forbes-Interview.
Leere Regale und lange Schlangen wurden zum Symbol der schwie- rigen Zeiten in Russland. Foto: AP
Viele russische Bürger waren von den Eskapaden der Neunziger schlicht ermüdet, als Wladimir Putin im Jahr 2000 das Amt des Präsidenten übernahm. Mit den steigenden Ölpreisen sei es der neuen Regierung möglich geworden, eine Art Gesellschaftsvertrag mit den Bürgern abzuschließen: keine Einmischung in die Politik im Gegenzug zu steigenden Lebensstandards, so der Politologe Michail Winogradow. Die meisten Russen hätten dieses Angebot mehr als dankbar angenommen.
„Angesichts der sinkenden politischen Aktivität in der Bevölkerung baute der Staat seine Aktiva aus und errichtete allmählich ein neues Machtmodell – ein für ihn komfortableres, das eher dem Staatskapitalismus als dem Liberalismus gleicht“, sagte Winogradow RBTH. Damit habe eine schrittweise Abkehr vom Liberalismus der Neunzigerjahre hin zu einer konservativen Ideologie eingesetzt.
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