Der Engländer Stewart Green fuhr 2003 mit dem Fahrrad von Großbritannien nach Kurgan, einer Kleinstadt im Ural an der Grenze zu Sibirien. Das Erstaunliche dabei ist nicht die Tausende Kilometer lange Strecke, die er dabei zurücklegte, sondern dass Green Rad fuhr: Nach einem Unfall war der Radrennsportler an den Rollstuhl gefesselt, ihm drohte eine Amputation seiner Beine. Doch Ärzten in Kurgan gelang es, sie zu retten. Green wurde nicht nur geheilt, er konnte sogar zu seinem geliebten Radsport zurückkehren – was er eindrucksvoll mit seiner Radtour nach Russland bewies.
Die Ärzte, die ihm halfen, arbeiten im russischen wissenschaftlichen Ilisarow-Zentrum, das auf Krankheiten und Verletzungen des Bewegungs- und Stützapparates spezialisiert ist. Rund 11 000 Operationen führt es jährlich an Patienten im Alter zwischen vier Monaten und 97 Jahren durch. Das Zentrum lässt nicht nur Models längere Beine wachsen – der Rekord des Zentrums ist eine Beinverlängerung um 54 Zentimeter –, es heilt auch Knochenverkrümmungen, bildet Ärzte aus 75 Ländern aus und bringt verzweifelte Patienten, deren Behandlung in anderen Klinken abgelehnt wurde, „wieder auf die Beine“.Der Gründer des Zentrums, Gawriil Ilisarow, schlug 1951 eine Behandlungsmethode für Knochenbrüche (und später für orthopädische Erkrankungen) auf der Basis des von ihm entwickelten Kompressions-Distraktions-Apparats, der später die Bezeichnung Ilisarow-Apparat erhielt, vor.
Gawriil Ilisarow. Foto: Pressebild
Seinem Behandlungsverfahren liegen die biologischen Eigenschaften des Gewebes zugrunde, das unter dem Einfluss einer dosierten Streckung wächst und sich zu regenerieren beginnt. Bei dieser Methode werden Fixatoren in Form von Metallspeichen oder -nägeln eingesetzt, die durch Fragmente der Knochen geführt werden. Dank diesem Verfahren muss der Bereich der Fraktur nicht bloßgelegt werden, und die unteren Gliedmaßen können ohne das Risiko von Knochenverschiebungen maximal belastet werden. Das von Ilisarow entwickelte Behandlungsverfahren wird inzwischen weltweit in mehr als 60 Ländern eingesetzt.
Foto: Pressebild
Vor Kurzem wurde im Zentrum ein verbesserter Apparat entwickelt, der das Knochengewebe zweimal so schnell wie bisher wachsen lassen soll. Ein in diesem Apparat eingebauter Mikromotor streckt den Knochen automatisch. Das Verfahren ist für Patienten mit komplizierten Knochendeformationen gedacht, die nicht stationär behandelt werden können. Außerdem soll die Neuentwicklung bei der Wirbelsäulenbehandlung von Kindern zum Einsatz kommen.
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„Früher haben wir die Knochen manuell gesteckt und mussten dafür den Apparat viermal am Tag nachjustieren, im Durchschnitt jeweils um 0,25 Millimeter. Das neue System lässt eine wesentlich größere Zahl von Streckungen zu“, erklärt Alexander Gubin, der Direktor des Ilisarow-Zentrums, in einem Gespräch mit RBTH. „Dank der automatisierten Fixierung kann die Streckung gleichmäßiger durchgeführt werden, was die Qualität des neu gebildeten Knochens deutlich verbessert.“
Zurzeit schließt das Zentrum die Erprobung von auf 3-D-Druckern gefertigten Implantaten ab. Sie sollen Patienten mit fehlenden Gliedmaßen eingepflanzt werden. „Um zum Beispiel eine Fingerprothese anzufertigen, wird in den Knochen ein individuell hergestelltes Implantat mit komplizierter Form eingeführt“, erzählt Gubin. „Dieses wächst an den Knochen des Patienten an. Ein anderer Teil des Implantats ragt aus der Oberfläche heraus. An diesen wird die Silikonprothese befestigt, die kaum von den richtigen Fingern des Patienten zu unterscheiden ist. Bewegt wird der neue ‚Finger‘ mithilfe des Knochenstumpfes, in den das Implantat eingepflanzt wurde.“
Foto: Pressebild
Studien wurden bislang nur an Kaninchen durchgeführt. Doch bereits für das laufende Jahr hat das Zentrum die ersten Operationen an Menschen geplant. Dabei können nicht nur Fingerprothesen, sondern auch künstliche Füße, Hüften und Schultern implantiert werden.
Gegenwärtig testen die Forscher eine weitere, neue Erfindung, die das Risiko einer Entzündung und schlechten Verheilung deutlich senken soll. Aber selbst wenn es zu Komplikationen kommen sollte, so versichert Gubin, könne dieses Problem leicht behoben werden. „Im Großen und Ganzen erinnert das an das Implantieren von Zähnen, das ja inzwischen eine weit verbreitete Behandlung ist. Kommt es zu Komplikationen, muss einfach nur die Prothese ausgetauscht werden.“
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