Jahrhundertelang bewohnten Tausende von Schweden die Gebiete im Westen Estlands sowie die estnischen Inseln. Sie blieben selbst dort wohnen, als die sogenannten Stormaktstiden, die „Zeit der schwedischen Großmacht“, vorbei war, die Ostsee nicht mehr zu Schweden gehörte und die Schweden es vorzogen, diese Gebiete zu verlassen.
Als die Sowjetunion im Sommer des Jahres 1940 die baltischen Staaten annektierte, wurden um die 10 000 estnische Schweden zu Bürgern der UdSSR. Doch aufgrund ihrer Nähe zum Westen war diese nationale Minderheit ganz anders als die übrigen Minderheiten, die dem sowjetischen Imperium angehörten. Stalin traf daher zusammen mit anderen sowjetischen Anführern die Entscheidung, dass sie einer besonderen Behandlung und einer Art „exklusiven Einführung in den Kommunismus“ bedurften.
Im Westen war nicht viel darüber bekannt, was in der geschlossenen sowjetischen Gesellschaft vor sich ging. Die estnischen Schweden bildeten hierbei die einzige Ausnahme. Seit Jahrhunderten hielten sie Kontakt zu ihrem Heimatland, das auch nach der Annexion der baltischen Staaten durch die Sowjetunion sorgfältig über ihr Schicksal wachte.
Da sich die Informationen über Schweden in andere Länder verbreiteten, war es wichtig, dass die sowjetische Führung der Welt demonstrierte, wie gut sie mit dieser nationalen Minderheit umging. Nach Ansicht des schwedischen Journalisten und Historikers John Chrispinsson(auf Schwedisch) wurden die estnischen Schweden dem Westens als Paradebeispiel eines idealen Lebens im sozialistischen Paradies vorgeführt.
Rote Armee in Estland, Oktober 1939
Public domainDies war besonders wichtig, weil sich die Beziehung zwischen der Sowjetunion und dem Westen nach der Annexion Ostpolens, der baltischen Staaten und dem Angriff auf Finnland vor dem Zweiten Weltkrieg erheblich verschlechtert hatte.
Trotz der Tatsache, dass die schwedische Minderheit klein war, wurde ihr auf höchster Ebene große Aufmerksamkeit geschenkt. Das kommunistische Regime unterstützte weitgehend die nationale Identität und Spracherhaltung der Schweden und unterstrich, dass die Schweden Privilegien genießen würden, die ihnen während der Zeit der estnisch-nationalistischen Regierung verwehrt worden waren.
Bald schon wurden regelmäßig am Donnerstag und Sonntag zwei schwedische Radioprogramme im nationalen Radio gesendet. Zudem traten zwei Minister, die die schwedische Sprache beherrschten, der Regierung des sowjetischen Estlands bei.
Am 17. Oktober des Jahres 1940 wurde sodann die erste Ausgabe der schwedischsprachigen Zeitung „Sowjet-Estland“ veröffentlicht. Einige Wochen danach erschien die gleichnamige Zeitung auf Russisch und wurde zu einer der wichtigsten Zeitungen in der Region. Es wurden in regelmäßigen Abständen über 1 100 Kopien der Zeitung veröffentlicht; einige von ihnen wurden sogar an die Schwedische Kommunistische Partei nach Stockholm geschickt.
„Sowjet-Estland“ berichtete unter anderem von der hohen Arbeitslosigkeit und einer tiefen Krise in Schweden, während die estnischen Schweden „dank dem Sozialismus nationale Freiheit und soziale Sicherheit“ genossen und ihnen laut der Zeitung in ihrem historischen Heimatland deshalb auch nichts entgehen würde (John Chrispinsson. Den Glömda Historien, Stockholm, 2011).
In der klaustrophobischen Welt der sowjetischen Medien blieb „Sowjet-Estland“ für die estnischen Schweden eine der wenigen Informationsquellen, wenn es um die Geschehnisse außerhalb der Sowjetunion ging, auch wenn die Zeitung immer noch etliche Propaganda und viele Lügen druckte.
Die schwedische Sprache wurde in den Städten des westestnischen Archipels, wo besonders viele Schweden lebten, aktiv aufrecht und die offiziellen Straßen- und Ortsnamen sowie offizielle Dokumente in der Originalsprache erhalten.
Auch die Bildungsangebote fanden in schwedischer Sprache und mithilfe schwedischer Schulbücher statt, die nach sozialistischen Standards umgeschrieben wurden. Schulen, die, nachdem die Sowjetmacht in die baltische Region kam, zunächst geschlossen wurden, wurden schon bald wiedereröffnet. Jedoch musste die „Birkas Folkhögskola“, die „Birkas Volkshochschule“, welche bis dato kulturelles Zentrum der estnischen Schweden im Westen Estlands gewesen war, beispielsweise obligatorische Kurse in russischer und ideologischer Bildung anbieten.
Die sowjetische Führung trug viel zur Unterstützung der Volkstraditionen der estnischen Schweden bei und plante, jährlich Kulturfeste, sportliche Aktivitäten, Chorgesang, traditionelle Tänze und Volkstheater durchzuführen. Die ersten Feierlichkeiten wurden für den Juli 1941 angesetzt, konnten aufgrund des Zweiten Weltkriegs jedoch nie abgehalten werden.
Darüber hinaus sollte die „Hauptstadt der estnischen Schweden“, Hapsal, langfristig das Hauptresort der gesamten Sowjetunion werden.
Die Sowjetregierung führte sorgfältige wirtschaftliche Reformen für die estnischen Schweden durch, um übermäßigen Druck zu vermeiden. Im Gegensatz zu anderen sowjetischen Volksminderheiten hatten sie seit der Annexion im Juli des Jahres 1940 fast neun Monate lang eine freie Marktwirtschaft. Erst im April des Jahres 1941 wurde sie abgeschafft.
Große landwirtschaftliche Betriebe wurden zwischen den neuen Eigentümern zur dauerhaften Nutzung aufgeteilt. Auf der Ormsöinsel erhielten beispielsweise 85 Kleinbetriebe auf Kosten der 45 größeren mehr Land. Das spaltete die Gesellschaft nicht nur in „Besitzer“ und „Besitzlose“, sondern führte auch zu Konflikten und Feindseligkeiten unter den Nachbarn.
Besonders schmerzhaft war für die estnischen Schweden, deren Haupttätigkeit bis dahin der Fischfang gewesen ist, die Beschlagnahmung ihrer Boote für zwei Kolchoshöfe.
Die sowjetische Lebensweise, insbesondere die sowjetische Wirtschaft, fand bei den estnischen Schweden keinen Anklang. Die kommunistischen Revolutions- und Jubiläumsfeiern konnten ihnen nicht Weihnachten und andere religiöse Feiertage, die verboten waren, ersetzen, sodass die Abspaltung dieser ethnischen Gruppe immer mehr zunahm und die verlorenen Verbindungen zu ihrer historischen Heimat eine immer größere Unzufriedenheit auslösten.
Während der Gespräche im Januar des Jahres 1941 zwischen den schwedischen und sowjetischen Außenministerien wurde der sowjetischen Seite mitgeteilt, dass über 5 000 estnische Schweden das Land verlassen wollten. Die Sowjetunion schwieg sich jedoch zunächst zu dem Thema aus, da sie der Welt keine Massenauswanderung eigener Bevölkerungsteile darbieten wollte.
Dennoch erkannten die Sowjetanführer an, dass ein ernsthaftes Problem bestand. Im Mai des Jahres 1941 wurde auf einer Sitzung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei erklärt, dass während der gesamten Zeit nur zwei Schweden der Kommunistischen Partei beigetreten wären und über 90 Prozent aller estnischen Schweden den Wunsch äußerten, die UdSSR zu verlassen.
Estnischen Schweden fliehen aus Tallinn, 1944
Estonian Maritime MuseumSelbst unter diesen Umständen wollte die sowjetische Führung die schwedisch-estnische Minderheit nicht unterdrücken. Es wurde vorgeschlagen, die Steuern für sie zu senken, die Nachfrage nach Nahrungsmitteln zu reduzieren, die Wehrpflicht aufzugeben und die Anzahl der Radioprogramme auf Schwedisch zu erhöhen.
Als im Juni des Jahres 1941 die Massendeportationen der örtlichen Bevölkerung aus den baltischen Staaten in die östlichen Teile der Sowjetunion begannen, wurden die Schweden erneut relativ gut behandelt. Nur 36 Menschen wurden nach Sibirien deportiert – eine verschwindend geringe Zahl, wenn man sie mit tausenden deportierten Estländern, Letten und Litauern vergleicht.
Diese seltsame Romanze zwischen der sowjetischen Führung und den estnischen Schweden endete im Jahr 1941 mit dem Zweiten Weltkrieg. Als im Jahr 1944 die sowjetische Armee in die baltische Region eindrang, flohen mehr als 7 500 von 9 000 estnischen Schweden nach Schweden.
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