Stalin und Gelja: Die tragische Geschichte hinter dem legendären Foto

Mikhail Kalashnikov/Sputnik
Das Foto, auf dem Stalin ein kleines Mädchen mit einem Blumenstrauß hält, porträtierte ihn als freundlichen, volksnahen Führer. Engelsina Markisowa, dem Mädchen auf dem Foto, half es jedoch nicht, ihre Eltern vor dem Tod zu bewahren.

Andy Warhol sagte im Jahr 1968, dass in Zukunft jeder seine 15 Minuten Ruhm haben werde. 32 Jahre zuvor, im Jahr 1936, konnte Engelsina Markisowa, ein siebenjähriges Mädchen aus Burjatien, diese Aussage natürlich noch nicht kennen. Das änderte jedoch nichts an der Tatsache, dass sie ihre ganz eigenen „15 Minuten Ruhm“ erlebte, als sie auf einem Foto mit dem allmächtigen Führer der Sowjetunion, Josef Stalin, abgelichtet wurde.

Ein Mädchen trifft den Führer

Ardan Markisow, Engelsinas Vater, war ein hingebungsvoller Kommunist, der seine Tochter zu Ehren von Friedrich Engels und seinen Sohn Wladlen zu Ehren von Wladimir Lenin benannt hatte. Darüber hinaus war er erfolgreich als sowjetischer Beamter tätig: Im Jahr 1936 arbeitete er als Volkskommissar für Landwirtschaft in der abgelegenen Burjatisch-Mongolischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik in Sibirien.

Für Ardan Markisow war es demnach eine große Ehre, Stalin in Moskau als Mitglied einer offiziellen burjatisch-mongolischen Delegation treffen zu dürfen, aber es war seine Tochter, die allen die Schau stahl. „Ich wollte Stalin ebenfalls treffen und bat meinen Vater, mich mitzunehmen, doch er meinte: ‚Du bist kein Delegationsmitglied, wer soll dich denn reinlassen?‘ Meine Mutter unterstützte mich jedoch und sagte ihm, dass er mich mitnehmen solle“, erinnert sich Engelsina Markisowa Jahrzehnte später.

Engelsinas Vater Ardan Markisow

Überraschenderweise stellte sich heraus, dass Kinder den Kreml ohne eine besondere Genehmigung besuchen konnten, also durfte sie ihren Vater begleiten. Nachdem sie sich während der langen Reden der Beamten über den Fortschritt in ihren Kolchosen extrem gelangweilt hatte, entschied sich Gelja schließlich, den Führer spontan zu umarmen.

„Ich nahm zwei Blumensträuße mit, ging zum Präsidium und dachte: Ich überreiche ihm nun diese Blumen“, sagte Markisowa. „Obwohl der Führer ziemlich überrascht wirkte, schien er sich zu freuen“, merkte Gelja an, „und setzte mich, so wie ich war, auf den Präsidiumstisch, – in Filzstiefeln.“ Sie überreichte Stalin die Blumen und gab ihm eine Umarmung. Daraufhin begannen Journalisten, das Geschehen zu fotografieren.

Das „Sinnbild einer glücklichen Kindheit“

„Magst du Uhren?“ hatte Stalin sie gefragt. Das Mädchen bejahte, obwohl sie nie eine Uhr besessen hatte, und ließ sich von Stalin unter anderem eine goldene Uhr und ein Grammophon für ihre Familie schenken.

Anatolij Alaj, der Regisseur des unvollendeten Films „Stalin und Gelja“, zitiert (rus) den Chefredakteur der Prawda-Zeitung Lew Mechlis folgendermaßen: „Gott selbst hat uns dieses kleine burjatische Mädchen geschickt. Wir werden sie zum Sinnbild einer glücklichen Kindheit machen.“ Und diese Idee wurde auch sofort umgesetzt. Nachdem das Foto von den beiden unter dem Titel „Freund der Kinder” in allen Zeitungen veröffentlicht wurde, verbreitete sich die Geschichte wie ein Lauffeuer.

„Als ich am nächsten Tag in die Hotelhalle ging, war sie voller Spielzeug und anderer Geschenke... und als meine Eltern und ich nach Ulan-Ude, die Hauptstadt Burjatiens, zurückkehrten, begrüßten mich die Leute so, wie sie später die Astronauten begrüßen würden...“, erinnert sich (rus) Markisowa. Georgij Lawrow, ein berühmter Bildhauer, schuf sogar ein sehr populäres Denkmal für Stalin und Gelja. Das Mädchen war überall zu sehen – doch nicht sehr lange.

Der Fall

Eineinhalb Jahre später, im Jahr 1937, neigten sich ihre „15 Minuten Ruhm“ dem Ende zu: Ardan Markisow, der loyale Kommunist und Verehrer Stalins, wurde verhaftet. „Mein Vater war überzeugt, dass es sich um einen Fehler handelte und er zurückkommen würde“, erinnert sich Gelja. Er tat es nicht und wurde aufgrund der falschen Anschuldigung, als Spion für Japan zu arbeiten, im Juni 1938 erschossen. Die Briefe, die seine Tochter an Stalin schrieb und in denen sie ihn um Gnade bat, blieben ungehört.

Der Führer verhielt sich still, als Geljas Leben auseinanderbrach und die Behörden auch ihre Mutter Dominika verhafteten, um sie nach Kasachstan zu verbannen, wo sie im Jahr 1938 unter mysteriösen Umständen tot aufgefunden wurde.

Markisowa nimmt an, dass ihre Mutter ebenfalls getötet wurde: Der Leiter des örtlichen Geheimdienstes schickte einen Brief an Lawrenti Beria, den Chef der sowjetischen Geheimdienste, und äußerte darin die Sorge, dass Dominika versuchen könnte, sich durch die „Beziehung“ ihrer Tochter zu Stalin „aus der Situation zu retten.“ „Auf dieses Gesuch antwortete Beria schließlich mit den Worten, geschrieben mit einem blauen Kugelschreiber, ‚ELIMINIEREN‘“, erinnert sie sich (rus).

Engelsina Markisowa im Jahr 1989

Was Gelja selbst angeht, wurde sie aus der offiziellen Version der Erzählung gestrichen, da Stalin auf keinen Fall mit „einer Tochter des Volksfeindes“ zusammen auf einem Foto gesehen werden konnte; zeitgleich war es jedoch unmöglich, alle Zeitungen und Skulpturen mit dem Bild zu vernichten. Heimtückisch änderten die Beamten daraufhin den Namen des Mädchens und behielten die Porträts und Skulpturen bei. Von nun an war es Mamlakat Nachangowa, eine berühmte junge Pionierin, die auf dem gemeinsamen Foto mit Stalin zu sehen war. Gelja Markisowa geriet in Vergessenheit.

Ein anderes Leben

Daraufhin kam das neunjährige Waisenmädchen nach Moskau, wo sie von nun an mit ihrer Tante unter deren Nachnamen Dorbejewa lebte. „Ich lebte ein Leben eines gewöhnlichen Sowjetbürgers...“, berichtet Gelja Markisowa, die später zwei Mal verheiratet und als auf Kambodscha spezialisierte Orientalistin tätig war. Im Jahr 2004, nur wenige Wochen nach Anatolij Alajs Drehbeginn, starb sie im Alter von 75 Jahren.

„Erst nachdem die Leute aus den Arbeitslagern zurückkehrten und die Wahrheit über Stalins Vergangenheit aufgedeckt wurde, habe ich verstanden, wer er wirklich ist“, erklärt (rus) sie. Zuvor habe sie, wie viele andere, sogar geweint, als sie vom Tod des „charismatischen“ Führers und „bestem Freund der Kinder“ erfahren habe.

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