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Während der 1980er und 1990er Jahre ging die die Mehrheit der Russen im Allgemeinen davon aus, dass das ganze Ausmaß von Stalins „Großer Säuberung“ zwischen 1936 und 1938 niemals ans Tageslicht kommen würde. Wobei viele Russen vermuteten, dass weit mehr Menschen getötet wurden, als bislang zugegeben worden war. Seit den berüchtigten Machenschaften Stalins sind inzwischen 80 Jahre vergangen. Ein guter Zeitpunkt für die russische Gesellschaft, auf das späte 20. Jahrhundert zurückzublicken und zu diskutieren, wie sie mit der brutalen Wahrheit über ihre Vergangenheit umgehen will.
„In den frühen 1990er Jahren beschäftigte ich mich sehr intensiv mit Statistiken über den sowjetischen Terror. Nach meinen Berechnungen verhafteten die Sicherheitsdienste während der gesamten Periode des Sowjet-Regimes 7,1 Millionen Menschen. Die russische Öffentlichkeit war jedoch immer der Auffassung, dass allein in den Jahren 1937-1939 etwa zwölf Millionen Menschen verhaftet worden seien. Also habe ich alle meine Berechnungen für eine lange Zeit beiseitegelegt“, erzählte der Vorsitzende der Organisation Memorial Arsenij Roginskij. Memorial ist eine Bürgerrechtsorganisation, die sich das Ziel gesetzt hat, "die Offenlegung der Wahrheit über die historische Vergangenheit zu fördern und die Erinnerung an die Opfer der politischen Repression zu verewigen".
Eines der letzten Bilder des Dichters Ossip Mandelstams aus dem Lager, 1938 / ArchivbildAls einer der Gründer von Memorial hat Roginskij zweifellos viel für die Sammlung und Verbreitung von Informationen über die Opfer politischer Verfolgung in der UdSSR getan. Gleichzeitig waren, wie seine Nachforschungen zeigen, die in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren langläufig verbreiteten Schätzungen zur Zahl von Stalins Opfern fragwürdig. Die Atmosphäre in der Gesellschaft war zu jener Zeit so stark emotional aufgeladen, dass selbst so ein angesehener Historiker wie er, nicht bereit war, umstrittene Erkenntnisse, auch dann, wenn sie auf soliden Recherchen beruhten, zu veröffentlichen. Wenn man die Zahlen zu Stalins vermeintlichen Opfern, die damals in Umlauf waren, kennt, ist klar, warum Roginskij keinen Drang verspürte, mit seinen Forschungsergebnissen in die Öffentlichkeit zu gehen.
Der bekannte Dissident Alexander Solschenizyn, dessen Buch "Archipel Gulag" während der Gorbatschowschen Perestroika sehr beliebt, war einer der Meinungsführer zu diesem Thema. In seinem Buch spricht Solschenizyn davon, dass es zwischen 1917 und 1959 insgesamt 66,7 Millionen Opfer des Sowjet-Regimes gegeben habe.
Schriftsteller Alexander Solschenizyn kommt nach acht Jahren aus dem Lager frei. Er ging dann ins Exil. Kok-Terek, Kasachstan, März 1953. / unbekannter Fotograf
Im Jahr 1991 veröffentlichte die größte sowjetische Tageszeitung Komsomolskaja Prawda ein Gespräch von Solschenizyn mit dem spanischen Fernsehen, in dem er seiner früheren Zahl weitere 44 Millionen Opfer hinzugefügt hatte. Das waren die Bürger der Sowjetunion, die während des Zweiten Weltkrieges umkamen. Auf diese Weise stieg bei Solschenizyn die Gesamtzahl von Stalins Opfern auf etwa 110 Millionen. Allerdings betrug die Gesamtbevölkerung der Sowjetunion vor dem Zweiten Weltkrieg nur etwa 170 Millionen, wie eine Volkszählung im Jahr 1939 ergab. Die genannten Zahlen widersprachen sich also offensichtlich.
Solche übertriebenen Zahlen wurden indes nicht nur von Dissidenten verbreitet, sondern auch von den Mitgliedern der Kommunistischen Partei selbst. Der Historiker Roy Medwedew, der im Jahr 1990 Mitglied des Zentralkomitees der KPdSU geworden war, behauptete zum Beispiel, dass die Zahl der Opfer der politischen Repressionen in der UdSSR von 1927 bis 1953 etwa 40 Millionen betrug.
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Auch Historiker im Westen beschäftigten sich mit der Zahl der Opfer aus der Stalin-Zeit. So behauptete der britische Historiker Robert Conquest in seinem 1968 erschienen Buch "Der Große Terror", dass bis Ende 1939 etwa neun Millionen Menschen in der UdSSR inhaftiert waren.
Obwohl diese Zahl niedriger ist als die Schätzungen anderer Autoren, ist sie offenbar dennoch fünfmal höher als die Realität. Der Historiker Wiktor Zemskow, einer der führenden Spezialisten zu diesem Thema, analysierte die von den Behörden akribisch geführten statistischen Daten des sowjetischen Strafsystems und kam zu dem Ergebnis, dass 1940 etwa 1,9 Millionen Menschen in sowjetischen Gefängnissen und Gefängnislagern saßen.
Im Jahr 1990 sagte der damalige Chef des Geheimdienstes KGB Wladimir Krjuschkow, dass von 1930 bis 1953 fast 3,8 Millionen Menschen inhaftiert gewesen seien. Davon wären 786 000 zum Tode verurteilt worden. Die Genauigkeit dieser Zahlen wird von Historikern nicht infrage gestellt.
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Wie sich der Historiker Zemskow später erinnerte, hielt die Öffentlichkeit die Informationen von Krjuschkow allerdings für gefälscht, während sie den Zahlen aus Archipel Gulag Glauben schenkte.
Angesichts der Tatsache, dass die sowjetischen Behörden in nur zwei Jahren, von 1937 bis 1939 mehr als 600 000 Todesurteile vollstreckten, muteten die Zahlen des KGB-Chefs durchaus plausibel an. Die Öffentlichkeit blieb dennoch skeptisch und vertraute ihm nicht.
Daraus ergibt sich die Frage, warum die Menschen dazu tendierten, übertriebenen Schätzungen zu glauben und die Tatsachen ignorierten.
Sergej Kara-Murza, ein Sozialwissenschaftler der sich auf die sowjetische Geschichte spezialisiert hat, argumentiert, dass, obwohl „die Säuberungen der 1930er Jahre ein schreckliches Phänomen in der russischen Geschichte waren“, es nie eine objektive Analyse gegeben habe.
Solschenizyn-Witwe Natalja bei der Eröffnung des Gulag-Museums in Moskau am 30. Oktober 2015. / AP
"Der Schmerz, der durch das viele Leid verursacht wurde, ist noch zu groß und jeder Versuch, eine unvoreingenommene Analyse zu machen, sieht unmoralisch aus. Verwandte und sogar Söhne von Politikern, die in den 1930er Jahren ermordet wurden, spielten in der Ära der Perestroika eine herausragende Rolle", schrieb Kara-Murza. „Das Bild der Repressionen ist ein so mächtiges politisches Werkzeug, dass die Ursachen für ihre Entstehung einer strengen, jedoch nicht immer objektiven Bewertung unterliegen.“
Kara-Murzas‘ Aussagen zur Verwendung der Repressionen als politisches Werkzeug stehen ganz im Einklang mit dem, was die Politikwissenschaftlerin Maria Lipman über die Auswirkungen der De-Stalinisierungs-Kampagne während der Perestroika, deren Kern Stalins Terror war, schrieb.
Letztendlich, so Lipman, habe die De-Stalinisierung "das kommunistische Regime radikal de-legitimiert“. „Bis Ende 1991 folgte der Zusammenbruch des sowjetischen Kommunismus dem Zusammenbruch der Sowjetunion." Paradoxerweise war der De-Stalinisierungsprozess, der die UdSSR begraben hat, nicht immer auf Wahrheit und Wirklichkeit begründet.
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