Samisdat: Wie die Menschen in der Sowjetunion die Zensur unterliefen

In der Sowjetunion war Lesen sehr populär. Das Land galt als am meisten lesende Nation. Dabei ging es nicht nur um die offiziell erlaubten Bücher. Mit viel Findigkeit und Risikobereitschaft wurde auch verbotene Literatur in Umlauf gebracht.

Am häufigsten lagen die Werke handschriftlich oder als auf der Schreibmaschine angefertigte Kopie vor. In den Siebzigerjahren tauchten die ersten Fotokopien auf. / Nkrita (CC BY-SA 4.0)Am häufigsten lagen die Werke handschriftlich oder als auf der Schreibmaschine angefertigte Kopie vor. In den Siebzigerjahren tauchten die ersten Fotokopien auf. / Nkrita (CC BY-SA 4.0)

Was haben Pasternaks „Doktor Schiwago“ und Solschenizyns „Archipel GULAG“ gemeinsam? Sie zählen heute zu den bedeutendsten Werken des 20. Jahrhunderts, werden millionenfach verlegt und in den Universitäten auf fünf Kontinenten studiert.

Für die Menschen in der Sowjetunion in den 1960er bis 1980er Jahren waren diese Romane in den Buchhandlungen nicht erhältlich. Sie wurden unter der Hand auf selbstbedruckten Bögen von Leser zu Leser weitergereicht. Nur dank dem Samisdat – so heißt diese Verbreitungsmethode verbotener Schriften auf russisch– konnten Pasternaks oder Solschenizyns Werke in der UdSSR Verbreitung finden.

Doktor Schiwago von Boris Pasternak / Kirill LagutkoDoktor Schiwago von Boris Pasternak / Kirill Lagutko

Strenge Zensur herrschte in der Sowjetunion immer. Seltene Lockerungen, während des Großen Vaterländischen Krieges zum Beispiel, änderten an diesem Gesamtbild nichts. In der Stalinzeit war an die illegale Verbreitung verbotener Bücher und Zeitschriften nicht einmal zu denken. Umso mehr stieg das Verlangen nach wahrheitsgemäßer Berichterstattung über aktuelle Ereignisse und nach unzugänglicher Literatur mit dem Aufkommen der Dissidentenbewegung und während der Zeit des politischen Tauwetters.  

Für die Zensur war in der Sowjetunion Glawlit - das Hauptamt für Literatur- und Verlagswesen zuständig. Diese Behörde zensierte alle Druckerzeugnisse des Landes vor deren Erscheinen und kontrollierte auch Literatur aus dem Ausland. Alles, was aus Sicht der Beamten die Sowjetordnung verleumdete und wie antisowjetische Agitation aussah, wurde nicht zum Druck zugelassen.

Das Glasperlenspiel von Hermann Hesse / Kirill LagutkoDas Glasperlenspiel von Hermann Hesse / Kirill Lagutko

Selbst die Miliz las Verbotenes

Das Interesse an verbotener Literatur sowie die Möglichkeit, ein Exemplar davon vom Autor persönlich oder aus dem Ausland zu bekommen, förderten nicht nur die Entwicklung des Samisdat. Es machte dieses „Genre“ auch außerordentlich berühmt.

„Mein Papa hat mit seinen Freunden die Verbreitung von Literatur betrieben, die wir wohl aus dem Ausland bekamen“, erinnert sich Jekaterina Poleschtschuk, Tochter eines Aktivisten des Samisdats. „Auf diese Weise lasen wir Bukowski, Solonewitsch und Wojnowitschs ‚Iwan Tschonkin‘. Mein Vater war damit beschäftigt, die Bücher zu binden. Ich erinnere mich oft an den Geruch kochenden Klebers in unserer Küche: Papa presste die abgedruckten oder kopierten Blätter zusammen, bestrich sie mit Leim und fügte sie in einen Einband ein, den er ebenfalls selbst gebastelt hatte. So entstand ein Buch.“

Der Roman von Wladimir Wojnowitsch „Das Leben und die ungewöhnlichen Abenteuer des Soldaten Iwan Tschonkin“ erschien offiziell erst 1988. Ein breites Publikum hatte es jedoch schon lange vorher kennengelernt.

„Eines Tages packte mein Vater die Blätter mit ‚Iwan Tschonkin‘ in eine Sporttasche und fuhr weg“, erzählt Jekaterina. „Es war Abend, ein Milizionär sprach meinen Vater an und wollte seine Papiere sehen. Mein Papa kleidete sich immer recht einfach – Hose, Pulli –, war unrasiert und hatte natürlich keinen Ausweis bei sich. Er wurde mitgenommen, aufs Revier. Der Milizionär durchsuchte seine Tasche und ließ meinen Vater nicht gehen. Mein Papa war natürlich sehr erschrocken und versuchte abzuschätzen, wie viel man ihm für die Verbreitung verbotener Literatur aufbrummen würde. Es kam jedoch alles ganz anders. Während er traurig da saß, begann der Milizionär den ‚Tschonkin‘ zu lesen, ohne sich auch nur für einen Moment loszureißen. Die ganze Nacht las er durch und als er fertig war, seufzte er leise, packte die Blätter vorsichtig in die Tasche zurück, schüttelte meinem Papa die Hand, wünschte ihm Glück und sagte, er solle künftig vorsichtiger sein.“

Hundeherz von Michail Bulgakow / Kirill LagutkoHundeherz von Michail Bulgakow / Kirill Lagutko

Am häufigsten lagen die Werke handschriftlich oder als auf der Schreibmaschine angefertigte Kopie vor. Um den Prozess der Vervielfältigung zu beschleunigen, wurde meist Blaupapier verwendet. Beim Abschreiben mit einem Kugelschreiber auf Zeitungspapier entstanden drei deutlich lesbare Kopien, mit einer Schreibmaschine waren es fünf. In den Siebzigerjahren tauchten dann die ersten Fotokopien auf.

Tausende Menschen wurden strafrechtlich verfolgt  

Interessant ist, dass selbst Nikita Chruschtschows Rede auf dem 20. Parteitag der KPdSU, die das Ende von Stalins Personenkult und den Anfang des Tauwetters markierte, zunächst nur durch Samisdat vollständig abgedruckt und verbreitet wurde. Die offiziellen Zeitungen zitierten die Rede lediglich in Ausschnitten.

Dissidenten, die die Öffentlichkeit auf das politische Geschehen aufmerksam machen wollten, verbreiteten Samisdat-Zeitschriften. Die berühmteste davon – „Chronik aktueller Ereignisse“ – erschien, mit einigen Unterbrechungen, 15 Jahre lang. In dieser Zeit wurde über die Hälfte aller Redakteure dieses Magazins verurteilt und verbannt.

Weit verbreitet war auch das Tamisdat: Unzulässige Literatur wurde ins Ausland geschickt, dort gedruckt und in die UdSSR „re-exportiert“.

Ein aufsehenerregender Fall war der Prozess gegen Andrej Sinjawski und Juri Daniel, deren Geschichten und Erzählungen im Ausland gedruckt wurden. Beide Schriftsteller wurden nach Artikel 70 des Strafgesetzbuches der Sowjetunion „Antisowjetische Agitation und Propaganda“ – worauf bei Verurteilungen wegen der Verbreitung von Samisdat oft Bezug genommen wurde – verurteilt, obwohl sie ihre Unschuld beteuerten.

Sowjetische Schriftsteller Andrej Sinjawski (r.) und Juri Daniel (l.) wurden nach Artikel 70 des Strafgesetzbuches der Sowjetunion „Antisowjetische Agitation und Propaganda“ verurteilt. / Archive PhotoSowjetische Schriftsteller Andrej Sinjawski (r.) und Juri Daniel (l.) wurden nach Artikel 70 des Strafgesetzbuches der Sowjetunion „Antisowjetische Agitation und Propaganda“ verurteilt. / Archive Photo

Zwischen 1956 und 1987 wurden etwa 8 000 Menschen nach Artikel 70 und Artikel 190-1 „Verbreitung von Gedankengut, das die Sowjetordnung verleumdet“, verurteilt.

Auch Lieder und Noten fanden illegale Verbreitung  

Dank dem Samisdat bekamen die Leser nicht nur Zugriff auf Romane und Erzählungen, die den Finger in die Wunde der Sowjetgesellschaft legten und Informationen über aktuelle politische Prozesse verbreiteten. Sie lernten auch Autoren des Silbernen Zeitalters kennen, die in der UdSSR nicht gedruckt wurden. Es war oftmals unmöglich, diese Bücher zu kaufen: Es gab einfach keine Neuauflagen.

 / Kirill Lagutko / Kirill Lagutko

„Wir haben die Dichterin und Schriftstellerin Marina Zwetajewa handschriftlich kopiert, eingebunden und Freunden zum Lesen gegeben“, erinnert sich Michail Seregin, einst selbst Verbreiter illegaler Literatur.

Doch Samisdat befasste sich nicht ausschließlich mit Schriften. Auch Noten standen auf dem Programm. Musikwerke wurden in den Anfangsjahren mit der Nadel eines selbstgebauten Fonografen in die Folien von Röntgenbildern graviert. Später wurden sie mit einem Tonbandgerät aufgezeichnet und solange vervielfältigt, wie unter dem Rauschen noch etwas zu hören war.

 „Wir haben die Notenlinien auf Schreibmaschine getippt und die Noten dann per Hand eingetragen, alles kopiert und eingefasst“, sagt Seregin. So kamen Lieder und Gedichte von Bulat Okudschawa, Juri Wisbor und anderer in den Umlauf.

In den Siebziger-und Achtzigerjahren war Samisdat nicht nur eine Sache von Dissidenten.  Auch unter Studenten und einfach nur Liebhabern guter Literatur und Musik wurden die Werke von Bulgakow, Tolkien, Achmatowa, Wysozki und vielen anderen verbreitet und erfreuten sich großer Popularität.

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