Genosse Trotzki, Sie haben am 07. November Geburtstag. Das ist auch der Tag, an dem die Revolution begonnen hat, die Sie mit Wladimir Lenin ausgerufen haben. Was halten Sie von diesem Zufall?
Mir selbst ist dieser seltsame Zufall erst drei Jahre nach der Oktoberrevolution aufgefallen. Mystiker und Pythagoreer werden daraus wahrscheinlich ihre ganz eigenen Schlüsse ziehen.
Was hat Sie zum Revolutionär gemacht?
Ich empfand einen starken Hass auf die bestehende Ordnung, auf die Ungerechtigkeit, die Tyrannei. Woher kam das? Das kam durch die Bedingungen während der Regierungszeit von Alexander dem Dritten, durch die Überheblichkeit der Polizei, die Ausbeutung durch Großgrundbesitzer, die Korruption unter den Beamten, die Volkstümelei, die Ungerechtigkeiten in den Schulen und auf der Straße, es kam durch den engen Kontakt zu Kindern, Bediensteten und Arbeitern auf dem Land, durch die gesamte soziale Atmosphäre zu dieser Zeit.
Sie sind 1905 aus Russland geflohen und haben zwölf Jahre im Ausland gelebt. Welches Land ist Ihnen besonders in Erinnerung geblieben?
New York hat mich enorm beeindruckt, denn es ist mehr als jede andere Stadt der Welt der vollkommenste Ausdruck unseres modernen Zeitalters. Eine Stadt der Prosa und der Fantasie, des kapitalistischen Automatismus, ihre Straßen sind ein Triumph des Kubismus, ihre Moralphilosophie die des Dollars. Wenn ich neidisch auf New York blicke, sehe ich mich immer noch als Europäer, frage mich aber: „Wird Europa da mithalten können? Wird daraus nichts weiter als ein Friedhof werden? Wird sich das wirtschaftliche und kulturelle Zentrum nach Amerika verschieben?“
Sie sind nach Russland zurückgekehrt, um mit Lenin die Revolution anzuführen. Was ist Ihnen vom Jahr 1917 und dem Bürgerkrieg besonders in Erinnerung geblieben?
Das Leben war eine Abfolge von Massenzusammenkünften. In Betrieben, Schulen und Hochschulen, in Theatern und Zirkussen, auf Straßen und Plätzen wurde sich versammelt. Ich bin häufig erst völlig erschöpft nach Mitternacht nach Hause gekommen. Jedes Mal schien es mir, als könnte ich diese neue Versammlung nicht überstehen, doch eine versteckte Reserve nervöser Energie kam an die Oberfläche und ich konnte eine Stunde lang reden, manchmal auch zwei.
Wie sieht es mit der Hinrichtung der Zarenfamilie aus? Warum haben Sie Nikolaus den Zweiten und seine Familie nicht ins Ausland ziehen lassen?
Diese strenge Bestrafung hat der Welt gezeigt, dass wir rücksichtslos kämpfen werden und uns nichts aufhalten kann. Die Hinrichtung der Zarenfamilie war nicht nur notwendig, um den Feind abzuschrecken und ihn zu schockieren, sondern auch, um unseren Soldaten zu sagen, dass es keinen Weg zurück gibt. Es gab nur Sieg oder Tod.
Was halten Sie von Josef Stalin, der Sie nach Lenins Tod entmachtet und Sie gezwungen hat, das Land zu verlassen? Der Ihren Namen verunglimpft und Ihre Ermordung befohlen hat?
Stalin ist das herausragende Mittelmaß in der bolschewistischen Partei. In den entscheidenden Monaten der theoretischen und politischen Vorbereitung für den Aufstand existierte im politischen Sinne kein Stalin. Mit seinem enormen und verbissenen Ehrgeiz konnte er nicht anders, als seine eigene intellektuelle und moralische Schwäche zu erkennen.
Mir ist zu Ohren gekommen, dass Stalin es wiederholt als „schweren Fehler“ bezeichnet hat, mich nicht zu töten, sondern in die Verbannung zu schicken. Daher blieb ihm keine andere Wahl, als einen terroristischen Anschlag auf mich zu planen.
Er kam damit durch. Im Jahr 1940 wurden Sie von einem Agenten Stalins mit einem Eispickel getötet. Sie haben alles verloren, Sie sind, verfolgt von Ihren Feinden, einsam im Exil gestorben. Was war Ihr letzter Gedanke vor Ihrem Tod?
Nur wenige Monate vor meiner Ermordung schrieb ich in mein Tagebuch: „Ich werde als Revolutionär des Proletariats, als Marxist und damit leidenschaftlicher Atheist sterben. Mein Glaube an eine Zukunft des Kommunismus ist noch genauso stark, ja stärker als in meiner Jugend. Dieser Glaube an die Menschheit und ihre Zukunft gibt mir mehr Kraft das durchzustehen als jede Religion.“
Alle „Antworten“ von Leo Trotzki stammen aus seinem Tagebuch und der Autobiografie „Mein Leben“.
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