Andrej Gnesdilow: "Wir nehmen den Kranken eine Art Schmerzbeichte ab."
Tamara LarinaAndrej Gnesdilow: Paracelsus – ein Mediziner aus dem Mittelalter – sagte, irgendwann müsse ein Arzt selbst zur Medizin für den Kranken werden. Wenn du nicht helfen kannst, dann teile mit ihm das, was auf ihn zukommt. Der Patient darf nicht alleingelassen werden, angesichts der Schicksalslawine, die auf ihn zurollt. Ein echter Arzt ist jemand, der zum Kranken kommt und ihn auch ohne ein Rezept, nur durch ein Gespräch, durch seine bloße Anwesenheit beruhigen kann.
Genau das war die Idee, mit der wir uns der Hospizbewegung angeschlossen haben. Das ist idealistisch, ein Traum. Bevor ein Arzt von sich behaupten kann, dass Patienten mit ihm frei von Angst, Schmerz und Einsamkeit sein können, muss er selbst eine Tragödie durchgemacht haben – den Verlust eines nahen Angehörigen oder eine eigene Erkrankung. Es gibt so manche Lebenssituation, die dann zur inneren Triebfeder wird, ein Arzt, ein Menschheitshelfer, zu werden.
Gnesdilows Wohnung hat eine ungewöhnliche Einrichtung. Seine Patienten kommen häufig vorbei. Foto: Tamara Larina
Das erste Hospiz haben wir 1990 gegründet, gemeinsam mit dem britischen Journalisten Viktor Zorza. Er finanzierte auch unsere Reise nach England – dort habe ich gelernt, wie ein Hospiz organisiert werden sollte. Mir folgte eine Gruppe von … ja nicht einmal Krankenschwestern, sondern einfachen Menschen ohne medizinische Ausbildung, die ins Hospiz kamen. Sie waren Pflegerinnen oder Reinigungskräfte, dafür brauchte man keine Ausbildung. Die Entlohnung war mickrig. Also machten viele eine Umschulung zur Krankenschwester. Das eigentlich Bewegende aber ist: Unser Team war so großartig, dass ich mich noch an jeden erinnern kann.
Manchmal bittet ein Patient darum, dass nicht der Arzt, sondern eine Pflegerin zu ihm kommt. Mit ihr ist es einfach leichter. Ich weiß nicht, ob Sie schon mal bei Bettlägerigen im Krankenhaus gewesen sind. Da kann der Stuhlgang zum Problem werden. Der Patient ist mit drei weiteren Menschen in seinem Zimmer und muss seine Notdurft in eine Windel verrichten. Natürlich schämt er sich. Doch dann kommt unsere Pflegerin. In ihrer Anwesenheit ist es einfacher. Es ist so wichtig, dass die Patienten sich aussuchen können, mit wem sie sich entspannter fühlen.
"Der Patient ist vielleicht zu stolz, um sich dem Arzt anzuvertrauen. Seine Puppe legt er dorthin, wo es weh tut." Foto: Tamara Larina
Eine Puppe ist der erste Freund des Kindes. Das Kind ist klein, die Puppe aber noch kleiner. In jedem von uns lebt ein inneres Kind, das uns aus den schlimmsten Situationen retten kann. Es hat Fantasie und dieses irrationale Denkvermögen beruhigt auch den Erwachsenen. Krankenhausmitarbeiter sind oft ganz erstaunt: Da ist ein Professor als Patient in seiner eigenen Klinik. Und er bittet seine Pflegerin, ob sie ihm ein Märchen vorlesen könne. Warum ein Märchen? Weil dem ein Wunder innewohnt. Deswegen praktizieren wir eine psychotherapeutische Rückkehr in die Kindheit.
Die lassen wir eigens anfertigen. Ich suchte nach Märchenerzählern und fand keinen. Das war schon sehr traurig. Dann stieß ich auf einen Puppenmacher. Puppenmacher sind ja auch Märchenerzähler. Sie machen Märchenfiguren, die Menschen ersetzen.
Gegenfrage: Wussten Sie, dass eine durchgespielte Handlung sich in der Realität leichter umsetzen lässt? Ein Arzt kommt zum Kranken und sagt: „Ich bin ein Nussknacker. Ich komme, um dir zu dienen.“ Und schenkt ihm eine Nussknacker-Figur. Der Patient ist vielleicht zu stolz, zu stur, zu starr, um sich dem Arzt anzuvertrauen. Er legt seine Puppe dorthin, wo es weh tut – und verspürt Erleichterung! Die Puppen können das Leid vieler Patienten lindern.
Seine Arbeit unterlegt Gnesdilow mit wissenschaftlichen Abhandlungen. Doch zudem schreibt er Märchen. Foto: Tamara Larina
Wissen Sie, den Weg unserer Patienten gehen wir täglich mit. Alles, was der Patient erleidet, machen wir auch durch – nicht in dem Maß, dafür aber häufiger. Doch eigentlich, wie soll ich es sagen, nehmen wir den Kranken eine Art Schmerzbeichte ab. Ja, das ist eigentlich das, was Hospizärzte tun.
Russlands erstes Hospiz wurde 1990 in Lachta bei Sankt Petersburg gegründet. Dort wird todkranken Patienten kostenlos Hilfe geboten.
Vollständiges Interview (auf Russisch) finden Sie hier.
Alle Rechte vorbehalten. Rossijskaja Gaseta, Moskau, Russland
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