Revolutionäre Unruhen erschütterten ab 1905 das Russische Reich. Foto aus den freien Quellen
Vor Beginn des 20. Jahrhunderts erlebte das damalige Russische Reich seine Blütezeit. Die Feldzüge nach Zentralasien waren erfolgreich, den Russisch-Osmanischen Krieg in Bulgarien konnte das Zarenreich für sich entscheiden. 1897 erreichte Russland gemeinsam mit Deutschland und Frankreich die Rückgabe der zwischen 1894 und 1895 von den Japanern besetzten Halbinsel Liaodong an China.
Das Russische Reich schien einen festen Platz im Kreise der Weltmächte eingenommen zu haben. Doch im Land entwickelte sich bald darauf eine politische Krise. Schon seit Langem schwelte ein Konflikt zwischen den Großgrundbesitzern, allen voran der Zarenfamilie und ihrer Günstlinge, die die agrar- und rohstofforientierte Ausprägung des Landes erhalten wollten, und Verfechtern einer wirtschaftlichen Modernisierung. Nun spitzte sich der Konflikt zu.
Sergej Witte, russischer Unternehmer und Staatsmann, war einer derjenigen, die sich für eine stärkere Industrialisierung des Landes einsetzten. Er war unter anderem Leiter der Abteilung für Eisenbahnangelegenheiten und später Finanzminister. Witte trieb den Bau der Transsibirischen Eisenbahn voran, die zur Entwicklung des Fernen Ostens Russlands beitragen sollte. Witte glaubte jedoch, dass die Region zusätzlich bevölkert werden müsse und setzte sich für ein Umsiedlungsprogramm ehemals leibeigener Bauern ohne Grundbesitz aus dem Westen des Landes ein. Von diesen gab es in Russland um die Jahrhundertwende eine große Anzahl. Sie sollten in der Amur-Region sesshaft werden. Witte erhoffte sich davon auch den Abbau sozialer Spannungen. Als Anreiz durften Umsiedlungswillige die neue Trasse zu stark ermäßigten Preisen nutzen und erhielten zudem Verpflegung und medizinische Betreuung während der Reise. Die Weiterreise in die Amur-Region erfolgte per Schiff.
Beim Zaren und seinen Anhängern stießen Wittes Pläne jedoch auf wenig Gegenliebe. In seinen Memoiren schrieb der Unternehmer: „Meine Idee eines Umsiedlungsprogramms ist auf Widerstand gestoßen. Viele unserer einflussreichen Großgrundbesitzer und ihre Freunde aus der Administration in Sankt Petersburg brachten klar zum Ausdruck, dass ihr Land an Wert verliere, würden die Bauern wegziehen. Es ist ja bekannt: je größer die Bevölkerung, desto höher die Landpreise. Außerdem wäre weniger Arbeitskraft verfügbar und die Landbewirtschaftung dadurch kostspieliger. Und überhaupt ist es wünschenswert, dass die Arbeiter wegen Arbeitsmangel hungern. So wären sie günstiger."
Die Bauern revoltierten immer häufiger gegen die Politik des Zaren. Bereits vor der Revolution gab es zahlreiche Bauernaufstände, die militärisch niedergeschlagen wurden. Und auch in der bislang so erfolgreichen
Außenpolitik wendete sich das Blatt zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Russland musste im Russisch-Japanischen Krieg Niederlagen hinnehmen. Die Kriegskosten wurden zu einem großen Teil den Bauern auferlegt. Der Rückhalt der Bevölkerung für den Zaren schwand, sein Reich stand zunehmend auf tönernen Füßen. Ein großer Teil der russischen Gesellschaft sympathisierte offen mit dem japanischen Gegner. Anfang 1905 erschien ein Pamphlet mit dem Titel „An die Offiziere der russischen Armee". Darin hieß es: „Mit jedem Sieg droht Russland die Stärkung des Zarismus. Mit jeder weiteren Niederlage rückt die Stunde der Befreiung näher. Ist es da verwunderlich, dass die Russen die Erfolge ihrer Gegner feiern?"
Die russische Armee musste im Krieg gegen Japan von Beginn an hohe Verluste verkraften. Gleichzeitig wuchs in Russland die Unzufriedenheit der Bevölkerung. Im Januar 1905 entschlossen sich Zehntausende Arbeiter in Sankt Petersburg, für bessere Lebensbedingungen zu demonstrieren, und machten sich auf zum Winterpalais des Zaren. Dessen Soldaten schlugen den Aufstand blutig nieder. Der 9. (22) Januar 1905 ging als Petersburger Blutsonntag in die Geschichte ein, bedeutete jedoch nicht das Ende der Aufstände. Anhaltende Proteste und ein Generalstreik führten schließlich dazu, dass Zar Nikolai II. das Oktobermanifest erließ und dem Volk bürgerliche Freiheitsrechte und eine gewählte Volksvertretung versprach. An vielen Orten entstanden Arbeiter- und Soldatenräte sowie Streikkomitees.
Die offiziellen Machthaber verloren die Orientierung. Gouverneure begannen, die Beschlüsse der Komitees und demonstrierender Soldaten in Form offizieller Anordnungen zu übernehmen. Der zeitgenössische General Anton
Denikin, der später gegen die Bolschewiken kämpfen sollte, schrieb: „Anstatt einer Befriedung hat das Manifest neue Spannungen verursacht. Überall wurden die Aufrufe laut: Weg mit der vertrauensunwürdigen, autokratischen Regierung! Weg mit ihren Regionalvertretern! Weg mit ihren Militärführern! Alle Macht dem Volk!" Besonders die Heimkehrer aus japanischer Kriegsgefangenschaft wurden von Denikin verdächtigt, im Hinterland Unruhen zu schüren. Diese seien von den Japanern gegen Russland aufgebracht worden, vermutete er. Im Juni 1907 wurden die Reformen des Oktobermanifests weitgehend zurückgenommen. Doch Russland hatte sich verändert. Der Zar, seine Gefolgschaft und das Militär waren verhasst.
Der Russisch-Japanische Krieg hatte ohnehin weitreichende Folgen, auch wenn Russland anfangs noch auf Unterstützung durch Deutschland zählen konnte. Im Februar 1904 griffen die Japaner Port Arthur an, eine Stadt, die China an Russland verpachtet hatte. Kurz darauf erklärte der damalige deutsche Reichskanzler Bernhard von Bülow im Reichstag: „Die deutsche Politik wird sich weigern, die freundschaftlichen deutsch-russischen Beziehungen zu verderben und sich in einen Streit mit Russland hineinziehen zu lassen". Es waren keine leeren Worte. Selbst als am 8. Oktober 1904 beim sogenannten Doggerbank-Zwischenfall die russische Marine in der Nordsee irrtümlicherweise englische Fischkutter unter Beschuss nahm, weil man annahm, es handele sich um japanische Minenträger, sicherte Deutschland seine Unterstützung zu. Dies hätte wohl auch dann gegolten, wenn Großbritannien Russland den Krieg erklärt hätte, was zwischenzeitlich als eine durchaus reale Gefahr erschien. Schließlich gab man sich auf der britischen Insel mit einer russischen Entschädigungszahlung an die Fischer zufrieden.
Russland dankte den Deutschen die Unterstützung nicht. Das konnte sich das Russische Reich nicht erlauben, da es nur über ein schwaches nationales Bankensystem verfügte und auf ausländische Kredite angewiesen war. Zudem hätte ein Bündnis mit Deutschland möglicherweise zu einem Bruch in den Beziehungen zu Frankreich, einem Verbündeten Englands und dem wichtigsten Gläubiger Russlands, geführt. Im Jahr 1907 schloss Russland einen Freundschaftsvertrag mit England, der de facto gegen Deutschland gerichtet war, die dortige politische Entwicklung beeinflusste und somit zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges beitrug.
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