Das 20. Jahrhundert bedeutete für viele den Untergang.
RBTHDie Probleme begannen mit der Bauernbefreiung Ende des 19. Jahrhunderts: Die Deutschen verloren ihren Sonderstatus in Russland und ihre steuerlichen Privilegien. Ab 1874 galt auch die allgemeine Wehrpflicht für sie, was eingeschliffene Konflikte ans Licht brachte: Fehlende Russischkenntnisse belasteten die Kommunikation, pazifistische Mennoniten flüchteten vor dem Dienst an der Waffe in abgelegene mittelasiatische, islamisch geprägte Provinzen.
Die Hungersnot 1891 verschärfte die sozialen und wirtschaftlichen Probleme und nährte die Fluchtbewegungen innerhalb des Landes nach Asien und Sibirien sowie ins Ausland. Im politisch konfliktreichen ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wanderten allein 85 000 Deutsche aus Russland nach Amerika aus, das entsprach 8,5 Prozent aller Russlanddeutschen. Unter den Juden waren es fast 40 Prozent. Zwischen der Revolution 1905 bis 1907 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs endeten die Karrieren der meisten erfolgreichen Deutschen im Russischen Reich, zumal sie von der neuen Sowjetmacht immer mehr als potenzielle Spione oder Verräter angesehen wurden.
Porträt von Boris Stürmer, abgebildet 1917 im Nowgoroder Gebiet. Foto: wikipedia.orgBoris Stürmer ist so ein Beispiel für harte historische Brüche. Über seine Vorfahren sind sich die Historiker uneinig: Sie könnten Baltendeutsche aus dem orthodoxen Ostsee-Gouvernement gewesen sein oder aber eine preußische Beamtenfamilie, die im 19. Jahrhundert nach Russland umsiedelten. Boris jedenfalls wurde 1948 in der Region Beschezk geboren. Sein angelerntes und hoch angesehenes diplomatisches Geschick wurde gerade zu Beginn des 20. Jahrhunderts besonders gebraucht: 1894 bis 1896 war er Gouverneur von Nowgorod, danach in Jaroslawl, wo er als bester Gouverneur des Russischen Reiches gefeiert wurde und sich Anerkennung und Vertrauen von Zar Nikolaj II. sicherte, der ihn bis 1917 zu schützen versuchte.
1902 wurde Stürmer als Abteilungsleiter ins Innenministerium berufen. Als studierter Jurist wurde er als Oberstaatsanwalt der Heiligen Synode vorgeschlagen, später als Bürgermeister von Moskau. Letztlich profitierte er im Januar 1916 von Streitigkeiten zwischen radikalen und linken Bewegungen und kam als Vorsitzender in den Ministerrat. Von März bis Juli desselben Jahres bekleidete er den Posten des Innenministers, ab Juli 1916 gleichzeitig den des Außenministers. Doch auf dem Höhepunkt seiner Karriere brachten die Wirren des Ersten Weltkriegs seinem Leben eine jähe Wendung: Im November 1916 entband ihn Nikolaj II. von all seinen Posten. Gegen Stürmer wurde Haftbefehl erlassen wegen Hochverrats, er kam in die Peter-und-Paul-Festung nach Sankt Petersburg und verstarb dort nur wenig später.
Im März 1917 wurde Nikolaj von Bünting festgenommen und auf dem Weg zum Verhör getötet. Foto: wikipedia.org.
Ein ähnliches Schicksal ereilte nahezu zeitgleich Nikolaj von Bünting: Er entstammte einer Familie Petersburger Deutscher, deren deutsche Wurzeln schon mehrere Generationen zurücklagen. Seine Mutter leitete das Smolnyj-Mädcheninternat, der Vater war Artillerie-General und Hofmeister am Zarenhof. Nikolaj wurde Jurist, Beamter und Kanzleisekretär beim Innenministerium, bekleidete unter anderem die Gouverneursämter in Archangelsk (1904 bis 1905), ab 1906 des Twerer Gouvernements. Er engagierte sich als Geschworener am Pskower Gericht, bei der Twerer Filialverwaltung des Roten Kreuzes, in der Wohltätigkeitsgesellschaft Sankt Petersburgs, der Gesellschaft für Nüchternheit und vielen anderen. Im März 1917 wurde aber auch er festgenommen und noch auf dem Weg zum Verhör in der Twerer Hauptwache von einem betrunkenen und wütenden Soldaten- und Bürgermob getötet.
Zar Nikolaj II. musste trotz der Sympathien für seine deutschen Staatsdiener der zunehmenden Deutschenfeindlichkeit im Land nachgeben. Am 13. Dezember 1915 erließ er einen Akt zur Umsiedlung der Deutschen nach Sibirien ab April 1917. Die Februarrevolution verhinderte zwar deren Umsetzung, die im Oktober an die Macht gekommenen Sowjets widerriefen zunächst die Deportation und schufen den Deutschen die Autonome Wolgarepublik. Eine Großzahl der Deutschen war da jedoch schon längst verhaftet, verstorben oder nicht mehr im Lande.
Alexander von Schmorell war Mitglied der Widerstandsbewegung „Weiße Rose“ und verfasste die berühmten Flugblätter gegen Hitlers Ideologie. Bild: wikipedia.orgIm selben schicksalsreichen Jahr 1917 wurde ein Russlanddeutscher geboren, der es im 20. Jahrhundert zu noch tragischerer politischer Berühmtheit brachte: Alexander Schmorell.
Schmorell stammte aus einer deutschen Kaufmannsfamilie im südrussischen Orenburg und wurde orthodox getauft. Nachdem die Mutter während des Bürgerkriegs an Typhus starb, siedelte die Familie ins sicher scheinende München um. Beim Medizinstudium lernte Alexander Hans Scholl und Willi Graf kennen – Mitglieder der Widerstandsbewegung „Weiße Rose“ – und verfasste mit ihnen gemeinsam die berühmten Flugblätter gegen Hitlers Ideologie. Als seine Freunde festgenommen wurden, versuchte er die Flucht in die Schweiz; er wurde abgewiesen, kehrte zurück und wurde – am Tag der Beerdigung seiner Freunde – festgenommen. Am 13. Juli 1943 wurde das vom sogenannten Volksgerichtshof im zweiten „Weiße Rose“-Prozess ausgesprochene Todesurteil per Fallbeil vollzogen.
Doch Schmorell und seine Freunde sind unvergessen. 2008 wurde Alexander Schmorell von der Russisch-Orthodoxen Kirche im Ausland als Neumärtyrer Russlands heiliggesprochen, 2012 fand der Feiergottesdienst statt. Der Feiertag des Heiligen Alexanders von München ist im orthodoxen Kalender nun der 13. Juli – der Tag seiner Hinrichtung durch das Nazi-Regime.
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