Dostojewski hat nicht nur Klassiker der Weltliteratur verfasst, sondern auch einige dieser unikalen russischen Begriffe geprägt.
Grigory AvoyanJeder Russe kennt dieses Wort, viele können es erklären, aber keiner kann es übersetzen. Selbst der russische Schriftsteller und Literaturübersetzer Wladimir Nabokow musste sich diesem Begriff geschlagen geben, auch wenn er eine treffende Darstellung dafür hatte.
„Öffnen Sie irgendeine Zeitschrift“, schrieb er. „Dort werden Sie ganz bestimmt ein Bild in dieser Art finden: Eine Familie hat sich soeben einen Funkempfänger gekauft (wahlweise einen Kühlschrank, ein Auto oder Silberbesteck – ganz egal was). Die Mutter, ganz außer sich vor Freude, fuchtelt mit den Armen, die Kinder treten mit offenem Mund um sie herum, ein Baby und der Hund strecken sich nach dem Tisch aus, auf dem der Götze aufgerichtet wurde… Und etwas steht abseits… siegesgewiss der Papa, der stolze Geber. Der füllige Kitsch dieser Werbung geht nicht aus dem falsch verstandenen Wert eines nützlichen Gegenstands hervor, sondern aus der Annahme, das höchste Glück sei käuflich und der Kauf veredele den Käufer.“
„Dieses Wort umfasst das Triviale, das Vulgäre, die sexuelle Freizügigkeit, die Geistlosigkeit“, bringt es die Harvard-Professorin Swetlana Bojm auf den Punkt: Das ist Póschlost.
Das deutsche Wikipedia hat eigens einen Artikel zu diesem Wort angelegt. Für den Kenner der russischen Seele, den Schriftsteller Fjodor Dostojewski ist „Nadrýw“ ein Schlüsselbegriff und beschreibt den unkontrollierten Gefühlsausbruch eines Menschen, der seine tiefstenRegungen freilässt.
Und wie nennt man doch gleich diesen Zustand, wenn eine Person ihre Emotionen über alle Maßen überspannt und bei deren Ausdruck einfach gnadenlos übertreibt? Erregung, Popanz, Hysterie? Bei Dostojewski eben „Nadrýw“; in seinem Roman „Brüder Karamasow“ widmet er dem gar ein ganzes Kapitel.
„Dieses unübersetzbare ‚Hamstwo‘“, schrieb der Sowjetschriftsteller Sergej Dowlatow einst über dieses Wort. „Hamstwo“ sei nichts Anderes als Grobheit, Frechheit und Unverschämtheit in einem, die zudem noch um Willkür vervielfacht werden. Gerade die Willkür haue einen so um: Man könne dagegen nicht angehen, man könne nur nachlassen. „Seit zehn Jahren lebe ich in diesem verrückten, wunderlichen, schrecklichen New York“, schrieb der Schriftsteller. „Und doch wundere ich mich immer noch, dass es keine Spur von ‚Hamstvo‘ hier gibt. Hier kann Ihnen alles Mögliche passieren, nur das nicht. In New York kann man sie ausrauben, aber die Tür vor der Nase schlägt man Ihnen nicht zu.“
Und wieder Dostojewski: Er soll es gewesen sein, der das Wort ins Russische eingeführt hat. Unauffällig werden, in den Hintergrund treten oder in einer unerwarteten Lage vor Beklommenheit erstarren – dies alles heißt „stuschewátsja“.
Weltschmerz oder Nostalgie kommen der russischen Toska schon nahe. Und doch umfassen sie diesen Begriff nicht in seiner ganzen Tiefe. „Toska“ ist das Gefühl großen seelischen Leids ohne greifbaren Grund, bis hin zu Trübsal. Manchmal ist es aber auch schlicht Liebeskummer.
Jetzt wird es philosophisch. Das deutsche Wort „das Sein“ käme diesem russischen Begriff wohl am nächsten, wenn es bloß nicht auf die materielle Welt beschränkt wäre. Denn „Bytije“ ist transzendent: Es beschreibt eine objektive Wirklichkeit, die unabhängig vom menschlichen Bewusstsein existiert.
Eliot Borenstein, Slawistik-Professor an der New Yorker Universität, erklärt dieses Wort in dessen buchstäblichem Sinn: „schranken- und grenzenlos“ – so verhält sich ein Mensch, der nicht nur das Gesetz, sondern alle gängigen Normen und Moralvorstellungen bricht.
Dieses Wort ist der Inbegriff der russischen Mentalität. Umso weniger lässt es sich in andere Sprachen übertragen. Man sagt den Russen ja nach, sie würden sich bei ihren Vorhaben gern auf den glücklichen Zufall verlassen, statt eigene Anstrengungen zu unternehmen. Diese Lebensart heißt eben „Awós“.
So hießen im alten Russland jene Menschen, die um Christus willen auf die Annehmlichkeiten dieser Welt verzichteten. Ihr Ziel war es, den Urgrund aller Sünde – den Stolz – zu besiegen und innere Demut zu erreichen. Eine russische Art der Asketen, sozusagen. Sie seien Gott am nächsten, sagte man über sie. So gingen diese Menschen von Ort zu Ort in ihren armseligen Fetzen, waren aber überall ebenso willkommen wie gefürchtet – ihrer Weissagungen wegen.
Einer, der was Großes bewegt hat, der hat einen „Podwig“ vollbracht. Worum es dabei geht, ist aber gar nicht so das Ergebnis einer Tat, sondern gewissermaßen die Begleitumstände: Der Mut und die Selbstlosigkeit, die jemand eines höheren Ziels wegen aufgebracht hat. Die russische Literatur ist voll von solchen „Heldentaten“, ob im Krieg oder Frieden. Und natürlich ist der höchste „Podwig“ jener, der der Liebe wegen vollbracht wird.
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