„Ich werde nie begreifen, warum Russen im Beruf und privat so dermaßen verschieden sein können. Sie sind, wenn man mit ihnen an einem Tisch sitzt oder im Freundeskreis total aufrichtig und offenherzig. Und begegnet man ihnen im Büro sind sie aggressiv und unhöflich“, sagt ein US-Diplomat, der seit Jahren in Russland arbeitet über diese typisch russische Eigenschaft.
Russen, die seit Jahrzehnten in den USA leben und die Möglichkeit haben, nationale Eigenschaften zu vergleichen, erzählen, dass die meisten Amerikaner den Begriff „Freundschaft“ anders definieren. „Es ist weise, sich nicht darauf zu verlassen, dass deine Freunde dir helfen, deine Möbel und zu tragen, für Russen hingegen ist es immer noch ganz normal, auf diese Weise einander zu helfen“, sagte ein ehemaliger Sowjetbürger, der seit drei Jahrzehnten in den Vereinigten Staaten lebt. Er fügte hinzu, dass es unter den Amerikanern ebenso ein schlechtes Zeichen sei, stilvolle und teure Geschenke zu machen. Und wenn ein Amerikaner sagt: „Lass uns treffen“, kann er oder sie es ernst meinen oder nicht; Russen jedoch bieten einander nur an, sich zu treffen, wenn sie es ernst meinen.
Für einen Amerikaner bedeutet Freundschaft vor allem, eine schöne Zeit miteinander zu verbringen. Es ist nicht üblich, sich darüber zu beschweren, wie hart das Leben ist, wie es beispielsweise Russen tun, oder sich bei der Lösung von Problemen auf Freunde zu verlassen.
Freundschaft war, insbesondere in der Sowjetzeit, zum Teil ein Ersatz für nicht funktionierende Institutionen. Um eine fachmännische medizinische Versorgung zu erhalten, musste man eine Bekannte in einem guten Krankenhaus haben, um frisches Obst auf den Festtagstisch zu bekommen, brauchte man einen Freund in einem Lebensmittelgeschäft. Wenn Eltern ihre Kinder in einer angesehenen Schule anmelden wollen, mussten sie den Direktor kennen. Soziale Netwerke waren entscheidend, um in der Sowjetzeit überleben zu können. Sozial zu handeln und Gefallen zu erwidern, waren die Prüfsteine der sowjetischen Gesellschaft, die unter einem Mangel an Waren und Dienstleistungen, sogar einem Mangel an Obst oder Fleisch, litt.
Die Suche nach „Insiderverbindungen“ ist nach wie vor ein wichtiger Weg, um mit den Problemen des Lebens in Russland umzugehen, da es sowohl an der Effizienz der Regierung als auch an öffentlichen Dienstleistungen, die für alle Bürger zugänglich sind, mangelt. Einzelne Russen und sogar Firmen können immer noch Hilfe gut gebrauchen, wenn sie einen zeitigeren Operationstermin für einen Verwandten erhalten oder eine Geldstrafe an die Polizei nicht bezahlen wollen. Ein Unternehmen bekommt möglicherweise bessere Konditionen, wenn es Freunde in staatlichen Stellen hat, und ein Arbeiter eine höhere Position, wenn jemand in seinem Namen danach fragt.
Die „russische Art“ verträgt sich nicht gut mit dem amerikanischen Credo: „Schwieriges wird sofort erledigt; Wunder dauern ein wenig länger.“ Russen bevorzugen oftmals die Taktik, Schwierigkeiten zu umgehen. Sie entscheiden sich lieber zu zahlen, anstatt zu versuchen, das Problem, mit dem sie konfrontiert sind, zu lösen.
Die Unfähigkeit, Probleme zu lösen, macht die Menschen nervös und wütend, zudem ist das gegenseitige Vertrauen in der russische Gesellschaft äußerst gering. Dennoch verlassen sich den Umfragen zufolge Russen auf ihre Verwandten, Freunde, den Präsidenten und ihre Nachbarn, was bedeutet, dass sie nicht auf offizielle Institutionen zählen.
Gleichzeitig sind die Russen daran gewöhnt, Fehler und Schwächen von Freunden oder öffentlichen Institutionen zu vergeben. Diese Qualität spiegelt ironischerweise ein recht entgegengesetztes Merkmal des russischen Charakters, nämlich Wärme und Herzlichkeit, wider. Sobald ein Mensch einen anderen als Freund anerkannt hat, wird er für eine Ewigkeit zuverlässig und aufrichtig sein. Sie können sich dann über ihre tiefsten Gefühle austauschen und über alle Aspekte ihres Lebens diskutieren.
Russen verlassen sich für gewöhnlich aufeinander und sehen kein Problem darin, wenn jemand Schwäche zeigt. Vermutlich stammt diese Einstellung zum Teil daher, dass der größte Teil der russischen Bevölkerung meist in der Geschichte nichts besaß und somit keine Gelegenheit hatte, irgendeine Art von Reichtum schätzen zu lernen.
Amerikanische Historiker liefern eine weitere Erklärung für dieses unterschiedliche Verständnis von Freundschaft. In ihrer kurzen Geschichte sind die Amerikaner viel rumgekommen und hatten daher kaum eine Chance, dauerhafte Beziehungen zu Freunden, Kollegen oder Nachbarn aufzubauen. Es reichte ihnen aus, für ein bisschen Spaß Freunde und Kollegen aus dem Arbeitsumfeld zu haben.
Zu guter Letzt lieben es die Russen, miteinander zu reden und sich für ein sinnvolles, leidenschaftliches Gespräch Zeit zu lassen. Russen können stundenlang zu Abend essen, wenn sie in eine interessante Unterhaltung oder Gesellschaft verwickelt wurden. Kein Kellner wird also die Rechnung bringen, solange er nicht gefragt wird. Schließlich geht es in Cafés und Restaurants in Russland nicht nur ums Essen; es geht um ein herzliches Gespräch.
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