Moskau schläft selten und war definitiv die schlechteste Stadt, um am 22. Juni 2008 nach dem Viertelfinale der UEFA Europameisterschaft 2008 in Österreich und der Schweiz, auch nur an Schlaf zu denken. Unter der Führung des niederländischen Trainers Guus Hiddink hatte die russische Fußballnationalmannschaft mit 3:1 einen fulminanten Überraschungssieg gegen die Niederlande davongetragen und galt als einer der Favoriten auf den Titel.
„Es war unvergesslich“, erinnert sich Maxim, ein Moskauer, der im Jahr 2008 16 Jahre alt war. „Die Sekunden nach dem Spiel, als ich und meine Freunde auf die Straße in Richtung Innenstadt rannten... Es gab so viele Menschen, die glücklich und betrunken, schreiend und jubelnd oder in ihren Autos hupend feierten. Fremde umarmten sich und riefen „RUSSLAND! RUSSLAND!“ Es fühlte sich an wie pures Glück.“
Wassilij Utkin, einer der bekanntesten russischen Sportreporter, war, wie auch viele andere Russen, sprachlos und schrieb (rus) nach dem Spiel: „Zum jetzigen Zeitpunkt der Europameisterschaft spielt niemand besser Fußball als wir. Das kann man nicht bestreiten.“ Nach drei Siegen – gegen Griechenland (1: 0), Schweden (2: 0) und die Niederlande (3: 1) – spielte die russische Mannschaft so gut, wie nie zuvor. Wie hat sie das geschafft?
Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion war Russland bis dahin nie mehr als ein Favorit eines seriösen Fußballturniers gehandelt worden. Die Mannschaft konnte sich noch nicht einmal für die WM- 2006 qualifizieren. Danach stellte der nationale Fußballverband den ersten ausländischen Trainer, Guus Hiddink, ein, der zuvor mit den Niederlanden, Südkorea und Australien zusammengearbeitet hatte.
In der Qualifikationsrunde zur Europameisterschaft 2008 konnte Russland zwar England besiegen, verlor jedoch gegen Israel. Erst mit dem Sieg Kroatiens gegen England schaffte es Russland in die Endphase. Das erste Spiel der russischen Nationalmannschaft in der Gruppe D endete mit einer 1:4-Niederlage gegen Spanien, wurde aber von drei Siegen in Folge begleitet.
Der Erfolg hielt nicht lange an. Im Halbfinale verlor die russische Nationalmannschaft noch einmal gegen Spanien mit 0:3 und fuhr nach Hause.
Für einen Außenseiter wie Russland war es nichtsdestotrotz ein großer Erfolg, Drittplazierter zu werden und Bronze zu gewinnen. Es wurde sogar ein Film, „The Golden Bronze“ (zu Deutsch „Das goldene Bronze“), aufgrund dieses Spiels gedreht. Doch wie kam die russische Nationalmannschaft an diesen Punkt?
Wie Stanislaw Minin, der Sportreporter des Match-TV-Senders, mitteilte, „gab es mehrere Faktoren, die zum Erfolg führten, es ist daher unmöglich, nur einen Punkt zu nennen“. Hier sind die drei wichtigsten von ihnen.
1 Guter infrastruktureller Hintergrund
Roman Abramowitsch
ReutersExperten weisen darauf hin, dass der „National Football Academy Fund“, der im Jahr 2004 vom russischen Geschäftsmann Roman Abramowitsch gesponsert wurde, zum Fortschritt des russischen Fußballs beitrug. Er soll Angaben zufolge (rus) rund 127 bis 170 Millionen Euro für den Ausbau der Infrastruktur ausgeben, 140 neue Fußballfelder gebaut und Guus Hiddink eingestellt haben.
„Abramowitschs ‚Akademie‘ hat dem russischen Fußball eine Grundlage gegeben, etwas, worauf er aufbauen konnte“, meint Stanislaw Minin. „Das war eine große Hilfe.“
2 Eine Generation herausragender Spieler
Andrej Arschawin, der in drei Spielen zwei Mal ein Tor schoss und es in die Nationalmannschaft schaffte, gilt immer noch als einer der herausragendsten russischen Fußballspieler. Er, Roman Pawljutschenko und einige andere Stars der Europameisterschaft 2008, schafften es danach, in die englische Premier League aufgenommen zu werden.
„Es war eine sehr starke Generation von Fußballspielern“, kommentiert Minin. „Außerdem waren sie im Jahr 2008 in Bestform. Nicht nur die Nationalmannschaft hat gut gespielt, auch der ‚Zenit Sankt Petersburg‘ hatte in diesem Jahr den UEFA-Pokal gewonnen und viele seiner Spieler haben ebenfalls in der Nationalmannschaft gespielt.“
3 Guus Hiddinks Talent als Trainer
Nach dem Spiel gegen die Niederlande wurde Hiddink zum Nationalhelden in Russland erklärt und fortan „der Zauberer“ genannt. Präsident Dmitrij Medwedew scherzte (rus), er könne dem niederländischen Manager die Staatsbürgerschaft gewähren, einige gaben ihren Kindern sogar seinen Namen.
Alle sind sich einig, dass Hiddink das Spiel der russischen Nationalmannschaft verändert hat. „Er hatte eine besondere Art“, glaubt Stanislaw Minin. „Er hatte davor mit durchschnittlichen Teams wie Südkorea und Australien erfolgreich zusammengearbeitet, da er es verstand, die Stärken und Schwächen jedes Spielers zu nutzen. Vor der Europameisterschaft haben er und seine Assistenten auf ein sehr rationales Vorbereitungssystem gesetzt, um das Team bei den wichtigsten Spielen zur Höchstform zu treiben.“
Für viele Fans schien die Fußball-Europameisterschaft 2008 nur der Beginn einer glorreichen Ära des russischen Fußballs zu sein. Es stellte sich jedoch heraus, dass die Siegessträhne ein Einzelfall war. Hiddinks Mannschaft schaffte es danach nicht, sich für die Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika zu qualifizieren und verlor im Entscheidungsspiel der zweiten Runde gegen die slowenische Nationalmannschaft.
Nach dieser Niederlage trat „der Zauberer“ als Trainer zurück, während die Nationalmannschaft mithilfe verschiedener Manager, ausländischer Superstars und einheimischen Wunderkindern vergeblich versuchte, an den alten Erfolg anzuknüpfen.
Andrej Arschawin
Leo Vogelzang/Global Look PressStanislaw Minin vermutet, dass der russische Fußball es verpasst hat, seine Chancen richtig zu nutzen. „Hiddink als ersten ausländischen Trainer einzuladen, war mit vielen Risiken verbunden – danach agierten die Funktionäre zu vorsichtig, hatten Angst und stellten Trainer ein, deren beste Zeiten schon lange vorbei waren. Unsere Fußballer haben es leider auch nicht geschafft, sich zu verbessern – einige, wie Arschawin, waren für ein paar Saisons im Ausland, waren jedoch nicht in der Lage, den hohen Standard zu halten.“
Nach zehn Jahren steht Russland nun eine neue Herausforderung bevor. Zwar sind die Erwartungen seit dem letzten Sieg im Oktober 2017 nicht sehr hoch, doch ist die russische Nationalmannschaft, wie wir wissen, immer für eine Überraschung gut.
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