Russen können oft unhöflich wirken. Sie vermeiden Smalltalk, sind nicht daran gewöhnt, ständig zu lächeln, und haben generell einen eher grimmigen Gesichtsausdruck. Wissenschaftler und Laien behaupten, dass die Gründe dafür kultureller und historischer Natur sind.
Die Sowjetzeit förderte spezifische kulturelle Merkmale. „Im russischen Alltag bedeutet die Aussage, dass es kein Bier gibt, schlicht und ergreifend, dass das Bier nur für diejenigen verfügbar ist, die ein Recht darauf haben. Dieses System fördert ein Verhaltensmodell, das auf Druck, List, Arroganz und anderen aggressiven Eigenschaften basiert, um zu beweisen, dass man derjenige ist, der [etwas Gutes] verdient“, schrieb (rus) Andrej Radostnyj als Kommentar zu einer Frage im Internet über die unhöfliche Art der Russen.
Diese metaphorische Erklärung geht zwar etwas zu weit, dennoch kann vieles von Menschen im Dienstleistungssektor bestätigt werden, die im Ausland arbeiten. „Russische Kunden werden sofort aggressiv. Noch bevor sie im Hotel einchecken, sind sie sicher, das schlechteste Zimmer bekommen zu haben, hereingelegt und ihres Geldes beraubt worden zu sein. Sie verhalten sich dann so, als ob sie nun gezwungen wären, drei Mal so viel zu zahlen wie ursprünglich vereinbart“, erzählt (rus) Alexandra Karasik, eine russische Emigrantin, die bei ihrer Arbeit in der Hotelbranche mit ihren ehemaligen Landsleuten zu tun hat.
Ob Sie es glauben oder nicht, aber die Menschen, die im Dienstleistungssektor arbeiten, tragen zu den Launen der Kunden bei. Ob als Abwehrmechanismus oder aus anderen Gründen: Einige beherrschen perfekt die Kunst, unhöflich zu sein.
Eine außergewöhnliche soziologische Umfrage (rus), die erforschen sollte, wie Russen ihre Landsleute sehen, zeigte des Weiteren, dass etwa 80 Prozent der Befragten finden, Russen seien schnell beleidigt. Damit sind Situationen gemeint, in denen sie in der Schlange stehen oder in einem Lebensmittelgeschäft einkaufen. Obwohl die Umfrage im Jahr 2003 durchgeführt wurde, sind die Ergebnisse auch heute noch zutreffend.
„Ich finde, dass die Moskauer Metro-Kassierer die unhöflichsten Mitarbeiter im Dienstleistungssektor der russischen Hauptstadt sind“, sagt der in Moskau lebende Michail Ofizerow. „Sie grüßen nie, lächeln nie, bedanken sich nie bei ihren Kunden. Außerdem wird man in der Stoßzeit in der Metro immer beleidigt, bedrängt oder angeschrien.“
Anna Pawlowskaja, die als Abteilungsleiterin für Regionalstudien an der Staatlichen Universität Moskau arbeitet und sich mit Fragen der interkulturellen Kommunikation beschäftigt, verbindet die Unhöflichkeit im Dienstleistungssektor mit der entfernten bäuerlichen Vergangenheit des Landes.
„Die Idee der Gleichheit war sehr wichtig für die russischen Bauern und sehr charakteristisch für ein Dorf. Sie half, Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft zu bilden und zu erhalten. Deshalb haben wir jetzt so große Probleme mit der Unhöflichkeit im Dienstleistungssektor“, bemerkt Pawlowskaja.
„Wir möchten nicht dienen. Es wird als erniedrigend und unwürdig angesehen, so als wäre jemand, der etwas für andere tut – wie etwa das Essen im Restaurant zu bringen, in einem Hotel, als Verkäufer oder Putzfrau zu arbeiten – ein Mensch zweiter Klasse, während der Kunde ein Mensch erster Klasse ist. Daher kommt auch der Wunsch der Russen, ihre Unabhängigkeit zu verteidigen und zu zeigen, dass sie weder minderwertig noch Bedienstete sind.“
Dieser Wunsch äußert sich oft in Form von artikulierter Verachtung und offenen Beleidigungen, die die nichts ahnenden Kunden treffen.
In einer Kolumne (rus), für die BBC entlarvt der in Sankt Petersburg lebende Schotte Neil Martin das Klischee des unhöflichen Russen, für das er kulturelle Unterschiede verantwortlich macht.
„‚Nein‘ oder ‚nein, ich will nicht‘ zu sagen, ist bei uns eine Beleidigung. In der englischen Kultur ist ein Nein schlimmer als ein Schlag ins Gesicht. Soweit ich weiß, ist auch das Auslassen eines Dankeschöns in russischer Sprache akzeptabler oder gilt zumindest nicht als unhöflich“, sagt Martin.
In der Tat ist die Tendenz der Russen, offen und direkt zu sein, für viele Ausländer verwirrend. Sie haben oftmals Schwierigkeiten, eine Kultur zu verstehen, die unverhohlenes beziehungsweise direktes Verhalten toleriert und sogar fördert. So ist es für viele Russen akzeptabel, eine ihnen kaum bekannte Person zu fragen, wie viel sie verdient, wie groß ihre Wohnung ist und wie viel sie für die Miete bezahlt.
„Was mir am meisten auffällt ist, dass die Russen sich nicht scheuen, die Wahrheit zu sagen, auch wenn diese nur beleidigend ist und sonst keinerlei Nutzen hat, während das bei uns als unhöflich gilt“, meint Erwann Pensec aus Frankreich.
Diese missverständliche Unverblümtheit sorgt natürlich für Unmut, wenn man nicht an sie gewöhnt ist. Zu bedenken gibt es jedoch, dass Russen damit meist niemandem auf die Füße treten wollen, sondern einfach nur neugierig sind.
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