Ungebetene Gäste: Wie die Russen Bären aus den Dörfern vertreiben

WWF Russia
Stellen Sie sich vor, Sie wollen ihr Haus verlassen, doch vor der Türe sitzt ein riesiger Bär. Wen rufen Sie an? Ganz klarer Fall: die Bärenpatrouille. Diese Freiwilligen retten Menschen vor den pelzigen Tieren und umgekehrt!

Noch Anfang Mai weigerte sich die Temperatur in dem kleinen Dorf Ust-Kara (kaum 500 Einwohner) an der Karasee, einem arktischen Randmeer, hartnäckig, über Null zu klettern. Eine Handvoll fast baufälliger zweistöckiger Wohnblöcke waren von den Schneemassen eingehüllt. Im zweiten Stock eines von ihnen schlief tief und fest Jewgenija Amelitschkina, die Ortsvorsteherin. 

Um 6 Uhr wurde sie durch einen Anruf geweckt. Sie setzte schon an, um die Störer ihrer Nachtruhe zu verfluchen, doch sie kam nicht dazu: „Jewgenija Juwinalijewna, da ist ein Bär auf dem Dach, nur keine Panik! schrie ein Nachbar in den Hörer. Als sie „Keine Panik“ hörte, hatte sie erst richtig Angst. 

Laut dem Projektkoordinator des World Wide Fund (WWF) Russland, Sergej Uwarow, war der junge Bär einen Schneeberg hinauf und auf Amelitschkinas Dach geklettert. Glücklicherweise wurden keine Bewohner verletzt, und Jewgenija rief sofort die Spezialpatrouille an, die Fackeln und Schneemobile benutzte, um das Tier aus dem Dorf zu vertreiben.

Dies ist kein Einzelfall. Für Bewohner von Siedlungen im autonomen Kreis der Nenzen (wo auch Ust-Kara liegt), in Tschukotka und anderen arktischen Regionen sind Begegnungen mit Bären an der Tagesordnung und es passiert immer öfter. 

„Man kann einem Bären begegnen, wenn man den Müll draußen entsorgt oder die Kinder zur Schule bringt. Möglicherweise können Sie gar nicht vor die Türe gehen, denn die Haustüre wird von einem der riesigen Tiere blockiert“, berichtet Uwarow.

Für solche Situationen hat der WWF Russland die Bärenpatrouille aufgestellt, eine Gruppe lokaler Freiwilliger, die verhindern, dass es zu einem direkten Kontakt zwischen Menschen und Bär kommt und die Tiere zurück in die Wildnis geleiten. Wie schützen diese Freiwilligen die nördlichsten Siedlungen Russlands und warum haben sie von Jahr zu Jahr mehr zu tun? 

Bärensache 

Die erste Einheit einer Bärenpatrouille wurde 2006 in einem Dorf in Tschukotka gegründet, erklärt Russlands WWF-Direktor Dmitri Gorschkow. Er sagt, dass insgesamt acht Bärenpatrouillen in der Arktis operieren: jeweils zwei in Tschukotka und Jakutien und vier im Autonomen Kreis der Nenzen. 

Jede Patrouille besteht aus drei bis vier Personen. Von Herbst bis zum späten Frühling kommen die Bären in die Siedlungen, weiß Uwarow. Im Herbst, wenn das Eis gefriert, bewegen sich die Bären darauf vorwärts. Im Frühjahr, wenn die Schneeschmelze einsetzt, ziehen sie zu den Eisflächen in Küstennähe, wo die Robben, ihre Hauptnahrung, leben. Aufgrund der globalen Erwärmung wird das Eis jedoch immer dünner und die Eisschollen kleiner. 

Dies zwingt die Bären, auf der Suche nach Nahrung an Land zu gehen. Sie fühlen sich vom Geruch von Fleisch und Fisch angezogen, der von Müllhaufen ausgeht.

„Das schmelzende Eis bedeutet, dass die Bären gezwungen sind, ein großes Gewässer zu überqueren, um ans Ufer zu gelangen. Sie kommen hungrig, erschöpft, gestresst und manchmal verletzt an Land, zum Beispiel, wenn eine Bärin ihren Nachwuchs verteidigen musste. In diesem Fall ist der Bär gefährlich und kann auch Menschen als Beute betrachten“, warnt Uwarow.

Sehr junge Bären mit einem Gewicht von 50 bis 100 kg besuchen die Siedlungen auch manchmal aus Neugier. Sie stellen keine Bedrohung dar, es sei denn, ihre Mutter macht sich auf die Suche nach ihnen. Diese könnte zum Angriff übergehen, wenn sie ihre Jungen in Gefahr sieht.  

Bären können mit lauten Geräuschen oder hellen Lichtern vertrieben werden, sagt Uwarow. Leuchtpistolen kommen häufig zum Einsatz. Das Geräusch eines Schneemobilmotors finden die Tiere unangenehm und sie ziehen ebenfalls von dannen. 

„Es ist sehr wichtig, das Tier mit einer Methode abzuschrecken, bei der eine menschliche Silhouette für sie sichtbar ist - damit es lernt, Angst vor Menschen zu haben. Die Tiere werden zum Meer begleitet und dann allein gelassen“, erklärt Uwarow.

Tägliche Patrouillen 

Tatjana Minenko, Leiterin der Bärenpatrouille im Dorf Ryrkaipij in Tschukotka, trat ihrer Einheit 2007 bei. Sie beobachtet schon seit früher Kindheit Bären, Wale und Walrosse. Sie arbeitete als Rentierhirte und Näherin und stellte Kleidung aus Tierhäuten her. Auf die Frage, wie viele Bären sie in ihrem Leben gesehen hat, kann sie nicht antworten, so viele waren es. 

Sie hat keine Angst mehr vor den riesigen Tieren und verschreckt sie mit kehligen Schreien und dem Schwenken eines alten Speers. Ein Vorfall im Jahr 2019 schockierte jedoch sogar sie.

„Um 22 Uhr mache ich meine Abendrunde. Es ist immer so leise, nicht einmal Hunde hört man“, sagt Tatjana mit leicht zitternder Stimme, während sie mit einer Kamera Aufnahmen zeigt. Man sieht einige zweistöckige Häuser, schneebedeckte Straßen. Es ist dunkel und die Stille ist beinahe ohrenbetäubend. 

Diese Aufnahme ist aus Dezember 2019 und zeigt, wie rund 60 Bären ihr Heimatdorf belagern. Das Eis war nicht stark genug für die Tiere, um nach Norden zu ziehen. Also hatten sie sich am Ufer in der Nähe des Dorfes versammelt, angelockt von Walrosskadavern.  

Mehr als fünf Tage hintereinander gruben Tatjana und andere Dorfbewohner die Walrosskadaver aus dem Schnee aus und brachten sie fort, damit die Bären auch gingen. Mehrmals am Tag ging die Bärenpatrouille im Dorf zu Kindergarten und Schule, um im Notfall eingreifen zu können und die Bären zu vertreiben. Das war sicherlich einer der haarsträubendsten Einsätze der letzten Jahre.  

Der Herbst 2019 war auch für das Dorf Amderma im Autonomen Kreis der Nenzen schwierig, erzählt Uwarow. Einst lebten dort bis zu 14.000 Menschen, heute sind es jedoch nicht mehr als 350. Die meisten Gebäude sind verfallen. Die Bären ziehen auf der Suche nach Futter durchs Dorf. 

.„Im Herbst 2019 ging ein großer Bär direkt in ein Wohngebäude in den zweiten Stock. Die Leute versuchten, das Tier durch Schreie zu vertreiben, fünf bis sechs Personen gleichzeitig, doch erst unserer Patrouille gelang es, den Bären zurück ans Meer zu bringen“, erinnert sich Uwarow.

Im Mai 2020 verließ eine Bärin mit zwei Jungen auf der Suche nach Nahrung ihre Höhle und verbrachte fünf Tage auf einer Müllkippe im Dorf Leningradski in Tschukotka. Es gab keine Patrouille in der Nähe. Eine Einheit reiste mit Schneemobilen aus 100 Kilometer Entfernung an und brachte die Bärenfamilie zurück ans Meer, wo sie Robben jagen konnte. 

Waleri Kaljarachtin erinnert sich noch gut an diesen Moment: „Wir haben sie mehr als drei Stunden begleitet und dabei 26 Kilometer zurückgelegt. Als wir das Ufer erreichten, legte sich die Bärenmutter aufs Eis und wurde viel ruhiger. ‚Endlich zu Hause‘ riefen wir und waren begeistert!“ 

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