Als ein Bewohner von Lutschegorsk im Fernen Osten am Abend mit seinem Hund unter den Fenstern eines fünfstöckigen Gebäudes spazieren ging, traf er auf einen wütenden Bären. Darauf war Viktor Dubizskij nicht vorbereitet: „Ein Bär springt mich unter dem Balkon an. Die Zähne gefletscht, Schaum vor dem Maul – das einzige, was ich tun konnte, war, meine Arme zu heben. Er schlägt mich mit seiner Tatze vor die Brust und haut mich um. Ich flog zwei Meter durch die Luft und landete auf dem Bürgersteig.“ Viktor war nicht der einzige, der an diesem Tag von den Bären verletzt wurde, aber wie durch ein Wunder konnten sich alle retten.
Hier eine weitere Episode: Südrussland, Taganrog. Ein Mann geht in einem gewöhnlichen Wohngebiet mit einem Braunbären an der Leine spazieren und versucht regelmäßig, ihm ein High-Five zu geben oder seine Pfote zu schütteln. Das Video verbreitete sich in den sozialen Medien, woraufhin der Mann von der Polizei aufgesucht wird – um den Zustand des Tieres zu überprüfen und den Halter für das Ausführen des Tieres ohne Maulkorb zu bestrafen.
Diese beiden Fälle veranschaulichen eines der populärsten und amüsantesten Klischees über Russland, das sich als gar kein Klischee herausstellt. Laufen also tatsächlich Bären durch die Straßen der russischen Städte?
Kurz gesagt, die Antwort lautet: Ja, es ist wahr. Aber erstens nicht überall und zweitens nicht immer. Vor ein paar Jahrhunderten wäre die Antwort noch eindeutig gewesen.
In Russland war es alltäglich, Bären auf der Straße zu treffen. Aber die häufigen Begegnungen mit ihnen waren auf die beispiellose Popularität von Bärenshows zurückzuführen. In Russland war ein gezähmter Bär die „Hauptattraktion“ für reisende Skomoróchi (wie die Possenreißer genannt wurden). Abgesehen von der gelegentlichen Begegnung mit einem Bären in freier Wildbahn gab es also viele Gelegenheiten, einen zahmen Meister Petz an einer Kette zu sehen. Diese Tradition setzte sich über die Jahrhunderte fort und irgendwann gab es so viele Bären auf den Straßen, dass Zar Alexej I. Im 17. Jahrhundert gezwungen war, ein Dekret zu erlassen, das die „Tanzbären“ verbot. Das hielt das fahrende Volk jedoch nicht davon ab, sein Geld damit zu verdienen, so dass das Ganze damit keine Ende fand.
Heutzutage hängt die Wahrscheinlichkeit einer solchen Begegnung vom Ort und der Jahreszeit ab. In Russland ist es keine Seltenheit, dass sich ein Bär in ein Einkaufszentrum schleicht und irgendwo zwischen H&M und Zara spazieren geht. Oder dass Bären eine Straße in der Taiga blockieren und erst wieder frei geben, wenn Autofahrer oder Passagiere ihnen einen „Tribut“ in Form von Futter geben. Und es kam auch schon vor, dass Bären ein ganzes Dorf als Geisel genommen haben und die Bewohner ihre Häuser nicht verlassen konnten.
Die Chance, auf den Straßen Moskaus und im europäischen Teil Russlands einem Bären zu begegnen, ist gleich null – dort leben einfach keine Bären. In Zentralrussland, im Ural und in Sibirien, wo sie sich vor Wohnhäusern herumtreiben können, und natürlich im Fernen Osten, wo sie am zahlreichsten sind, ist dies hingegen möglich. Und je weiter östlich, desto größer sind die Tiere. Die kleinsten Bären gibt es im Kaukasus, die größten im Fernen Osten und vor allem in Kamtschatka, wohin die Lachse in großer Zahl zum Laichen kommen.
In Russland gibt es drei Bärenarten: Braun-, Himalaya- und Eisbären. Auf der Suche nach Nahrung dringen sie vom Herbst bis zum späten Frühjahr in Städte und Siedlungen ein. Wenn sie nicht genügend Fett angesammelt haben, begeben sie sich nicht in Winterschlaf,. Sondern nähern sich den Siedlungen der Mensch – hungrig und aggressiv. Für die Bewohner des Autonomen Gebiets der Nenzen (NAO), Tschukotkas und anderer Regionen der Polarregion ist die Begegnung mit einem Bären eine alltägliche Angelegenheit.
„Es kann sein, dass du einem Bären begegnest, wenn du den Müll herausträgst oder deine Kinder zur Schule bringst. Es kann sein, dass du nicht einmal die Möglichkeit hast, dein Haus zu verlassen, da ein riesiges Tier deine Einfahrt versperrt“, sagt Sergej Uwarow, Koordinator des WWF Russland im NAO. Speziell für solche Fälle hat der WWF die Bärenpatrouille ins Leben gerufen, eine Gruppe von Freiwilligen, die solche Begegnungen verhindern und die Tiere in ihren natürlichen Lebensraum begleiten.
In den letzten Jahren hat die Zahl der Aufeinandertreffen jedoch zugenommen. Experten führen dies darauf zurück, dass Bären weniger gejagt werden und ihre Angst vor dem Menschen nachgelassen hat. Gleichzeitig nimmt auch die Zahl der Bären zu – nach Angaben des Föderalen Zentrums für die Entwicklung des Jagdwesens (FZEJ) hat die Population der Braunbären in Russland in den letzten 15 Jahren, seit 2004, um 90 Prozent zugenommen.
Und was die Haltung eines Bären als Haustier betrifft, so trat das entsprechende Verbot erst 2020 in Kraft. Die Geschichte mit dem Bären, der an der Leine auf der Straße spazieren geführt wurde, stammt also offensichtlich nicht aus den Reich der Fantasie.
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