Millionen von Russen legen täglich lange Arbeitswege zurück. Am günstigsten und zuverlässigsten sind dabei die Elektritschkas, typische Regionalbahnen, die Dörfer und kleine Städte mit den nächstgelegenen Großstädten und Metropolen verbinden.
Allein nach Moskau pendeln täglich rund zwei Millionen Menschen allein mit den Elektritschkas. Zwischen acht und neun Uhr morgens stürzen aus allen Himmelsrichtungen des Moskauer Gebietes und dessen Nachbarregionen Arbeiter, Studenten und Angestellte in die Megapolis, um Geld für ihre Familien zuhause zu verdienen. Eine Elektritschka ist ein Regionalzug, eine Mischung aus Straßenbahn und Metro, der die Regionen mit den Großstädten verbindet. Im Unterschied zu den Fernzügen müssen Sie hier beim Fahrkartenkauf keinen Ausweis vorlegen. Früher, zu späten Sowjetzeiten und in den wilden 90er Jahren beispielsweise, waren die Elektritschkas darum auch eine populäre Option, sich im Land frei zu bewegen, ohne dass die Behörden das nachverfolgen konnten.
Der offizielle und legale Weg zur Elektritschka führt stets über den Bahnhofsteil für „prigorodnyje poesda“ (Vorstadt-Züge). Dort können die Tickets bequem am Automaten oder persönlich an der Kasse erworben werden. Dann folgen Sie den Pfeilen über das Bahnhofsgelände zu den Bahnsteigen und erreichen eine lange Reihe von Drehkreuzen. Mit einer gültigen Fahrkarte (oder Zeitkarte) passieren Sie diese schnell und problemlos und steigen in Ihre gewünschte Elektritschka.
Manchmal allerdings werden Sie an den Bahnsteigenden oder direkt im Türbereich des Waggons noch einmal von Schaffnern kontrolliert. Wozu das? Weil es viele Fahrgäste bevorzugen, für ihre täglichen Fahrten nicht zu bezahlen. Obwohl die Preise, abhängig von der Streckenlänge, zumeist zwischen 70 und 500 Rubel liegen (1 bis 8 Euro), fahren allein von den zwei Millionen täglichen Moskau-Pendlern durchschnittlich 300.000 Personen schwarz. Für die verlorengegangene Summe im Jahr könnten die Verkehrsbetriebe mehrere neue Elektritschka-Züge kaufen.
Um die verräterischen Drehkreuze zu umgehen, suchen und finden die Schwarzfahrer Wege durch Mauerlöcher oder klettern über den Zaun am Streckenrand. Diese Szenen können Sie am besten aus dem Zugfenster beobachten – unabhängig von Ort und Wetterlage. Da die Nichtzahler bis zum Bahnsteig immer auch benutzte Gleise überqueren müssen, kommt es oft zu Unfällen. Besonders die neuen Hochgeschwindigkeitszüge „Sapsan“ rauschen lautlos und schnell heran und überraschen die Kletterer – oft tödlich.
Aber Sie haben ja nun Ihr Ticket gekauft und können entspannt einsteigen. Behalten Sie Ihre Fahrkarte unbedingt bis zum Ende Ihrer Fahrt. Nur mit dem Ticket können Sie auch Ihren Zielbahnhof wieder verlassen. Denn auch dort müssen Sie wieder Drehkreuze passieren.
In älteren Elektritschkas, wo die Fenster noch weit geöffnet werden können, haben Sie noch die Chance folgende Szene zu verfolgen: Plötzlich fliegt eine Tasche von draußen durchs Fenster auf den nächsten Platz. Wundern Sie sich nicht! So möchte sich nur jemand gern schon einen Platz reservieren. Die klassische Platzordnung: Beidseitig des Mittelgangs sitzen sich in einem „Coupé“ jeweils drei Personen auf einer Bank gegenüber. Manchmal auch mehr, selten weniger.
Und auch das „Platzfreihalten” gibt es hier natürlich: Jemand – sehr oft Frauen im Alter um die 55 oder 60 Jahre – sitzt allein in einem dieser Sechser-„Coupés“ und reserviert alle anderen für seine/ihre fünf Kollegen/Freunde/Verwandten. Aber die können, wenn überhaupt, auch erst an den nächsten Stationen einsteigen… In dieser Situation sollten Sie sich gut überlegen, ob Sie bereit sind, sich um einen Platz zu streiten… Wenn ja, dann setzen Sie sich einfach trotzdem. Wenn nicht, bleiben Sie besser ruhig und suchen sich einen bequemen Stehplatz, wo Sie sich wenigstens noch anlehnen können.
Mit “Uwaschajemyje passaschiry…“ (“Sehr geehrte Fahrgäste…”) beginnen nicht nur die Durchsagen des Zugpersonals, sondern auch die Begrüßung der vielen, unterschiedlichsten Verkäufer von Papiere, Stiften, Feuerzeugen, Taschen, Socken, Wischlappen und allerlei anderen Krimskrams, den Sie ja vielleicht doch brauchen oder einfach so kaufen könnten. Sie erkennen diese Kaufleute an ihren großen Plastiktaschen und kleinen Mikrofonen. Kurz nach Abfahrt des Zuges beginnen sie dann, Sie davon zu überzeugen, dass Sie ohne ihr Super-Kreuzworträtsel die Fahrt nicht überstehen und ohne jenes ultimative Profitaschenmesser nicht mehr leben können.
Und wenn Sie keinen Händler treffen, dann doch sicher wenigstens die „kulturellere“ Variante: Studenten, Rentner und andere einkommenslose Menschen versuchen sich als Musiker so ein bisschen Geld dazuzuverdienen. Sie bieten oft traditionelle russische, militärische oder auch religiöse Volkslieder, spielen Gitarre oder covern Klassiker des russischen Rocks. Wenn es Ihnen gefällt, warum dem Interpreten dann nicht ein paar Rubelchen zustecken?
Natürlich ist weder das Verkaufen noch das Musizieren in den Waggons wirklich erlaubt. Aber es wird weitestgehend ignoriert. Merken Sie sich eine kleine Regel:
Je günstiger das Verkehrsmittel desto freier die Auslegung der Beförderungsbestimmungen!
Dieselbe “Regel” gilt übrigens auch fürs Essen, Trinken und alle anderen „physischen“ Bedürfnisse der Fahrgäste. Sie können natürlich den am Bahnhof gekauften Schaurma essen und ihre Cola trinken. Alkoholkonsum ist offiziell verboten, aber die Schaffner kontrollieren oder bestrafen das fast nie. Achten Sie doch mal auf die Leute, die aus in dunkle Plastebeutel eingehüllten Flaschen trinken.
Die wenigsten Elektritschkas verfügen über eine Toilette – und wenn, dann über nur eine im ersten Waggon für den gesamten Zug. Die Benutzung ist nicht unbedingt zu empfehlen. Der wichtigste Ort für solche „leicht unrechten“ Dinge ist darum das sogenannte „Tambur“, der Eingangsbereich an den Türen, und der Übergang zwischen den Waggons. Auch wenn dort in großen roten Buchstaben geschrieben steht „Ne kurit!“ („Nicht rauchen!“), so ist dies doch genau der Ort, wo so manche Fahrgäste trinken, rauchen, küssen und sich (manchmal auch handgreiflich) streiten. Das Tambur ist damit sicher einer der belebtesten und „russischsten“ Orte im öffentlichen Verkehrswesen überhaupt!
Plötzlich strömt mitten im Nirgendwo eine Menschenmasse durch den Waggon in Richtung des Lokführers. Wenige Momente später folgen mindestens vier Schaffner mit zwei Wachleuten im Gepäck und kontrollieren die Fahrkarten.
Aber was ist mit den Leuten, die gerade verschwunden sind? Schauen Sie unbedingt am folgenden Haltepunkt aus dem Fenster auf den Bahnsteig! Dort werden Sie dieselbe Menschenmasse dabei beobachten, wie sie den Bahnsteig entlang zum anderen Ende des Zugs rennt.
Wozu dieses Spektakel? Diese Leute werden „sajzy“ („Hasen“) genannt und fahren ohne Ticket. Um die 15 Prozent aller Elektritschkapassagiere kaufen keine Tickets und verstecken sich dann als „Hasen“ vor den Kontrolleuren. Dabei sind das oft offensichtlich keine armen Menschen: Frauen in hohen Absatzschuhen, Geschäftsleute mit Notebooks und iPhones, modisch gekleidete Studenten. Dennoch wollen sie aus verschiedenen Gründen nicht für die Fahrten zahlen. Manche von ihnen sind überzeugt, dass der tägliche Nahverkehr „dem Volk gehört“ und darum kostenfrei sein sollte. Andere wollen einfach Geld sparen.
Während die meisten Russen die Elektritschkas oft nur für kurze Strecken und das Pendeln zur Arbeit und zurück nutzen, hat der Moskauer Journalist und Reisende Alexander Lutschkin mit Vorstadtzügen ganz Russland bereist, konkret die Strecke vom fernöstlichen Wladiwostok nach Moskau.
„In Russland haben wir ein besonderes Verhältnis zu Ausländern, das ist historisch so gewachsen“, sagt Lutschkin. „Russen legen gegenüber Ausländern eine extreme Höflichkeit und Verehrung an den Tag, mehr als gegenüber Landsleuten. Gleichzeitig sehen wir sie aber auch als Ausländer, die nichts von unserem echten Leben verstehen. Für Reisende ist das eine günstige Ausgangsposition: Hier können Sie neugierig sein wie ein Kind und jeder wird Ihnen das nachsehen“, erzählt Lutschkin. Manchmal, gibt er zu, habe er sogar selbst versucht, sich als Ausländer auszugeben, als er durch Russland reiste. „Dann sind die Leute eher bereit zu helfen oder Tipps zu geben.“
In Elektritschkas treffen Sie, ähnlich wie in Platzkart-Fernzügen, auf völlig normale und typische Russen und Einheimische der Gegend, wo Sie gerade unterwegs sind. „Hier greift der ‚Effekt des zufälligen Mitreisenden‘“, erklärt Lutschkin die Besonderheit. „Sie treffen sich spontan und wissen, dass Sie sich nach der gemeinsamen Fahrt höchstwahrscheinlich nie wieder sehen werden. Darum kann es gut sein, dass Ihnen Ihre Gegenüber seine komplette Lebensgeschichte erzählen und manchmal auch einige merkwürde Geheimnisse anvertrauen wird. Und wenn Sie Ausländer sind, dann ist dieser Effekt nur noch stärker!“
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