Viele Gerichte, die wir heute zur traditionellen russischen Küche zählen, haben in Wirklichkeit in der Sowjetzeit ihre Wurzeln. Salate voller Mayonnaise, Koteletts voller Brot – all diese Gerichte wurden in der UdSSR-Ära kreiert. Die neuen Zeiten brachten auch Veränderungen in der Lebensweise mit sich, und natürlich hat sich die jahrhundertealte russische Küche dadurch stark verändert.
Bis zur Revolution 1917 wies die russische Küche sowohl eine soziale als auch eine geographische Teilung auf. Zu den traditionellen Bauerngerichten im westlichen Teil des Russischen Reichs gehörten unter anderem die Krautsuppe „Schtschi“, der Hirsebrei und das Roggenbrot. Die Bewohner des russischen Nordens bereiteten ihrerseits die Fischsuppe „Ucha“, gebackene Rüben und die Küchlein „Kalitki“ zu. Die Moskauer genossen im „Traktir“, einer Art russischem Café, das heiße Honiggetränk namens „Sbiten“, während in Sankt Petersburg, der damaligen Hauptstadt Russlands, elegante Cafés und Bäckereien im europäischen Stil besucht wurden. Und natürlich gab es da auch die Hausmannskost der Mittelklasse.
In der Sowjetunion wurde die russische Kost dann vereinheitlicht. Ein hohes Maß an sozialer Gleichberechtigung, einer Idee, die von den sowjetischen Führern verbreitet wurde, wurde zum Schlüsselelement der Kochkunst. Die sowjetische Küche bestand aus einer Mischung der nationalen Gerichte der sozialistischen Republiken, die oftmals durch den Gebrauch billiger Zutaten vereinfacht worden waren. Spezialitäten aus dem Süden der UdSSR, wie der „Schaschlik“, „Letscho“ und „Hartscho“, galten dabei als besonders beliebt.
Da das Proletariat die wichtigste soziale Schicht wurde, passte man das Essen an die Bedürfnisse der Arbeiterklasse an. Darüber hinaus wurde der Frau die Rolle der Arbeiterin und nicht nur die der Haushälterin zugesprochen. „Schluss mit der Küchensklaverei“ war ein beliebter Slogan des neuen Landes.
Die erste wesentliche Veränderung fand im Bereich der öffentlichen Verpflegung statt. Eine berufstätige Person brauchte kein Mittagessen daheim. Er oder sie konnten das Essen in der Fabrik- oder Bürokantine zu sich nehmen, wo alle Gerichte nach den staatlichen „GOST“-Normen zubereitet wurden, die alles, von der Fleischmenge in der Suppe bis hin zur chemischen Zusammensetzung der Gabeln, regulierten. Aus diesem Grund schmeckte der „Borschtsch“ aus Perm beispielsweise ähnlich wie der „Borschtsch“ aus Rjasan. Die Gerichte wiesen keine regionalen Unterschiede mehr auf.
Des Weiteren tauchte der Begriff „das Mittagessenset“ auf, der eine aus drei Gängen bestehende Mahlzeit beschrieb: Eine Suppe, ein Hauptgericht und Kompott. Da das „Mittagessenset“ nicht viel kostete, zogen die Arbeiter diese Art zu essen der Hausmannskost vor.
Restaurant Praga in Moskau
Yury Artamonov/SputnikSelbstverständlich gab es auch für die „Elite“, die Künstler und die „Nomenklatur“ der Partei eine öffentliche Verpflegung, zu der nicht nur Kantinen und Cafés, sondern auch Geschäfte, die seltene Ware anboten, gehörten.
In Restaurants gingen die gewöhnlichen sowjetischen Bürger hingegen meist nur, um große Anlässe, wie Geburtstage oder Hochzeiten, zu feiern.
In der Sowjetunion waren viele Produkte Mangelware, insbesondere Fleisch. Aus diesem Grund erklärte im Jahr 1932 der Leiter des Beschaffungswesens des Landes, Anastas Mikojan, jeden Donnerstag zum „Fischtag“. Die Kantinen boten an jedem vierten Wochentag nur Fischsuppe, gebratenen Kabeljau und Fischkoteletts an. Warum ausgerechnet am Donnerstag? Mittwoch und Freitag galten bei den Anhängern des russisch-orthodoxen Glaubens traditionell als Fastentage. Einer Theorie zufolge führten die Bolschewiki den „Fischtag“ also am Donnerstag ein, um mit dieser religiösen Tradition zu brechen.
Ab dem Ende der 1930er Jahre hatte sich die Fischindustrie rasch weiterentwickelt, so dass Fischkonserven aus Thunfisch, Buckellachs und Sardinen an den Tischen sowjetischer Bürger ihren Platz fanden.
Zunächst war die Bevölkerung von diesen unbekannten Produkten alles andere als begeistert, schrieb der Lebensmittelhistoriker Pawel Sutkin. Doch bei einer Parteiversammlung machte der sowjetische Politiker Wjatscheslaw Molotow eine sensationelle Aussage. Eine Schmuggelbande sollte angeblich Juwelen in den Fischdosen versteckt und ins Ausland verschickt haben. Zum Beweis öffnete Molotow eine Dose und nahm eine Perlenkette heraus. Es ist unnötig zu erwähnen, dass alle Fischkonserven in der Sowjetunion innerhalb weniger Tage ausverkauft waren – es handelte sich schließlich praktisch um eine Lotterie. Ob wohl jemand Glück gehabt hat? Keiner weiß es. Es wurden jedoch viele Fischgerichte dadurch erfunden.
Die Sowjetunion ist für ihre schnellen und kostengünstigen Entwicklungen in der Kochkunst berühmt. Nehmen Sie beispielsweise den Salat „Olivier", der in der ganzen Welt als russischer Salat bekannt ist. Er wurde ursprünglich in den 1860er Jahren vom französischen Küchenchef Lucien Olivier erfunden, der im Zentrum von Moskau ein Restaurant besaß. Der Salat war eine Spezialität des Hauses. Damals bestand er aus gepresstem Kaviar, gekochtem Flusskrebs, Kalbszunge, Moorhuhn und Sardellenpaste, frischem Salat, Essiggurken, Kapern, gekochten Eiern und frischen Gurken. Für die Sauce benötigte ein Koch schließlich französischen Essig, zwei frische Eier und Olivenöl.
Der russische Salat hat nichts mit der Kreation des französischen Küchenchefs zu tun. Aber wenn sie jemanden aus dem heutigen Russland oder aus einer ehemaligen sowjetischen Republik danach fragen, wie sie den „Olivier“ zubereiten, werden sie ihnen Folgendes antworten: Aus gekochten Würstchen, Kartoffeln, grünen Erbsen aus der Dose, Eiern, Gurken und viel Mayonnaise. In den Sowjetjahren war es nicht nur schwierig, solche Delikatessen wie Flusskrebs oder Moorhühner zu finden, sondern auch Würstchen und Dosenerbsen waren schwer zu kriegen. Manchmal boten die Lebensmittelläden diese raren Produkte an; diese wurden aber dann sogleich aufgekauft und für die Feiertage aufbewahrt. Heutzutage geben sich einige Restaurants Mühe, dem ursprüngliche Rezept des „Oliviers“ neues Leben einzuhauchen, dennoch ist die sowjetische Variante, die aus oben genannten Produkten besteht, viel bekannter, als sein kaiserlicher russischer Vorfahre. Dazu gibt es sogar einen russischen Witz, den jeder im Land kennt: „Fassen Sie es nicht an – das ist fürs Neujahr!“
Ein anderes bekanntes sowjetisches Gericht ist der „Hering unter dem Pelzmantel“. Dazu werden Heringstücke, Kartoffeln, Karotten, rote Beete und geriebene Eier übereinander geschichtet und natürlich mit Mayonnaise bedeckt. Dieser im Jahr 1918 erfundene Salat erhielt dann auch einen dem Geist der Revolution entsprechenden Namen: "Boykottiert und verbannt den Chauvinismus und den Kollaps“, dessen Abkürzung im Russischen SCHUBA, also Pelzmantel, bedeutet. Auch heute findet man diesen Salat auf jedem festlich gedeckten russischen Tisch.
Heutzutage gilt Mayonnaise als nicht sehr gesund. In den frühen Jahren der Sowjetunion jedoch, als es wenig nahrhafte Lebensmittel gab, war sie ein willkommener Spender von Energie und Fett. Zudem machte die Mayonnaise so fast jedes Gericht schmackhaft, wenn das gewünscht war. Unter den Leuten galt die Parole, dass man alles essen könne, solange es ein bisschen Mayonnaise enthält. Die Sowjetbürger taten alles, um an sie heranzukommen, insbesondere auch deshalb, da es kaum etwas Gleichwertiges gab. Allerdings erinnerte die sowjetische Mayonnaise, die 1936 aufkam, nur sehr vage an das französische Original. Das Rezept beinhaltete Öl, frisches Eigelb, Senf, Zucker, Essig, Salz und Gewürze –keine Zusatzstoffe und Stabilisatoren. Allerdings war Mayonnaise so knapp, dass die Sowjetbürger sie eigentlich nur an Feiertagen aßen.
Mayonnaise bildete die Basis für die drei Säulen einer jeden Festtafel zu damaligen Zeiten – den Salaten „Olivier“, „Hering unter dem Pelzmantel“ und „Mimosa“ (Salat aus Fischkonserven). Sie wurde auch in einem Gericht mit Schweinefleisch mit dem Namen “Französisches Fleisch“ verwendet, obwohl es so eine Speise in Frankreich gar nicht gibt. Mayonnaise wurde auch für die Herstellung von Teig eingesetzt (für Kekse, deren Teig mit der Mayonnaise in einem Fleischwolf vermengt wurde). Übrigens, ein leerer Mayonnaise-Becher wurde keineswegs weggeworfen, sondern oft für die Aufbewahrung von Medikamenten genutzt.
Zwar zerfiel die Sowjetunion im Jahre 1991, den Geschmack der Russen beeinflusst sie jedoch bis heute. Die Essgewohnheiten mögen seitdem gesunder geworden sein, aber jeder Russe wird Ihnen sagen, dass das Verlangen nach Mayonnaise ungebrochen ist, zum Beispiel als Salat-Dressing oder als Sauce für panierte Schnitzel.
Neben den vielen Restaurants, die traditionelle oder moderne russische Küche anbieten, nähren auch die Bistros mit original sowjetischer Küche nostalgische Erinnerungen. Restaurants im Sowjetstil sind nicht nur unter Russen sehr beliebt, sondern auch bei Touristen – und viele Russen können sich bis heute keine Sylvester-Party ohne den geliebten Salat „Olivier“ vorstellen.
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