„Stehen an der Ugra“: Wie Russland seine Unabhängigkeit erwarb

Eine denkwürdige "Schlacht" am Fluss Ugra führte im Jahre 1480 zur Unabhängigkeit Russlands und zur Erscheinung eines neuen Gebildes auf der Landkarte, eines zentralisierten russischen Staates.

Die Kämpfe an der Ugra waren keine übliche Schlacht, obwohl sich beiderseits mehrere Tausend Soldaten gegenüberstanden. Schon Zeitgenossen deuteten ihren Ausgang als eine göttliche Intervention der Jungfrau Maria, der Mutter des Jesus von Nazaret.

In Russland wird die Schlacht als „Stehen an der Ugra“ der Truppen des Großfürsten von Moskau Iwan III. und der Armee der Großen Horde unter Ahmad Khan bezeichnet. Gemeinhin wird dieses Ereignis als Ende der russischen Abhängigkeit von den Tataren angesehen, die zweieinhalb Jahrhunderte andauerte.

Bestrafung des Untertans

Ungeachtet der Tatsache, dass die Tataren schon 100 Jahre zuvor von Dmitri Donskoi, dem Vorfahren von Iwan III. in der Schlacht von Kulikowo geschlagen worden waren, musste die Rus noch immer Abgaben entrichten, da sie der Macht der Großen Horde nicht gewachsen war. Im Verlaufe des 15. Jahrhunderts verfiel diese allerdings immer mehr. Moskau, das zunehmend zu einem Zentrum des zersplitterten Russlands wurde, nutzte die Situation und stoppte die Zahlung der Abgaben unter Iwans Herrschaft.

Die Schlacht von Kulikowo

Iwans Ungehorsam stimmte Ahmad Khan, den Anführer der größten Gruppe innerhalb der zerfallenden Goldenen Horde sehr zornig. Er beschloss, den aufmüpfigen Vasallen zu bestrafen und versammelte eine Armee von 80-90 000 Soldaten um sich, mit der er sich auf den Weg in Richtung Moskau machte.

Umzingelt von Feinden

Iwan III. begann sich auf die Abwehr dieses erneuten Angriffes der Tataren vorzubereiten, zeigte sich jedoch zunehmend besorgt über den möglichen Ausgang eines Zusammenstoßes. Es war nicht nur die Stärke der gegnerischen Armee die ihn beunruhigte, sondern auch eine mögliche Allianz zwischen Ahmad Khan und Iwans Langzeit-Rivalen, dem Polnisch-Litauischen König Kasimir IV. Dazu kam, dass zwei von Iwans Brüdern, zwei einflussreiche Feudalherren, gegen ihn revoltierten und Kasimir unterstützten. Als ob das nicht schon genug gewesen wäre, belagerten im Norden des Landes Feudalherren des Livländischen Ordens russische Befestigungen.

Einige von Iwans engsten Beratern waren deshalb gegen eine direkte Auseinandersetzung mit der Horde und rieten dem Großfürsten dazu, mit den Tataren Frieden zu schließen. Iwan jedoch zögerte.

“Unvermeidbares Schicksal”

In der Zwischenzeit hatte die Armee von Ahmad Khan den etwa 200 Kilometer südwestlich von Moskau gelegenen Fluss Ugra erreicht und stellte damit eine unmittelbare Gefahr für die Hauptstadt dar. Hier jedoch begegnete sie russischen Kräften unter der Führung von Iwan dem Jüngeren, dem Sohn des Großfürsten. Beide Armeen bezogen Stellung an den jeweiligen Ufern des Flusses.

Die Tatsache, daß Kasimir es nicht gerade eilig hatte zur Armee von Ahmad Khan hinzuzustoßen, konnten Iwans Aussichten auf eine siegreiche Schlacht mit den Tataren auch nicht erhöhen. Er befahl seinem Sohn nach Moskau zu kommen, wo ein spezieller Rat gebildet wurde, um über die nächsten Maßnahmen zu diskutieren. Überraschend für Iwan, der ein autoritärer Machthaber war, erlaubte sich sein Sohn, die Weisung des Vaters zu ignorieren und damit zum Ausdruck zu bringen, dass es für ihn nur eine Option gab, zu kämpfen.

Iwan III. zerreißt Khans Brief von Alexej Kiwschenko

Es gibt Berichte darüber, dass einfache Einwohner Moskaus den Großfürsten aufforderten, gegen den Eindringling vorzugehen. Iwans spiritueller Mentor, der Erzbischof Vassian wandte sich ebenfalls in einem ergreifenden Aufruf an den Machthaber. „Müssen Sterbliche Angst vor dem Tod haben? Das Schicksal ist unvermeidbar. Ich bin alt und schwach, aber ich habe keine Angst vor einem tatarischen Schwert und werde mein Gesicht nicht von seiner Klinge abwenden, schrieb der Kleriker an Iwan. Wie der Historiker Nikolai Borisow anmerkte, hätte die Ablehnung eines Kampfes Iwan in eine schwierige und peinliche Lage gebracht. Also folgte dieser Anfang Oktober, gerade noch rechtzeitig, seiner Armee.  

Artillerie und Hakenbüchsen

Am 6. Oktober versuchte Ahmads Armee den Fluss, der nicht breiter als 120 bis 140 Meter war, zu überqueren. Die Kämpfe erstreckten sich über die gesamte Frontlinie von 60 Kilometern. Die Angriffe dauerten vier Tage und endeten in einem kompletten Desaster. Die Tataren konnten ihren größten Vorteil, die Kavallerie, nicht nutzen, denn dazu hätten sie erst den Fluss überqueren müssen. Dabei jedoch gerieten sie in das Artilleriefeuer der Russen.

Die russischen Kommandeure stellten an den für eine Flussüberquerung geeignetsten Stellen Spezialeinheiten der Infanterie mit Kanonen und Hakenbüchsen auf. Weitere Regimenter und Kavallerie wurden entlang des Flusses positioniert und konnten schnell von einer Stelle zur anderen beordert werden. Die Tataren konnten ihre Pfeile nicht einsetzen, da diese auf große Distanzen nicht wirkungsvoll waren. Auf diese Weise erwiesen sich Ahmads Soldaten als einfache Zielscheibe. Wie der zeitgenössische Historiker Aleksejew erklärt, schonte Ahmad bei der Flussüberquerung seine Leute keineswegs, aber alles erwies sich als vergebens.

Das Stehen am Ugra-Fluss (Darstellung aus dem 16. Jahrhundert)

Der Widerstand dauerte bis zum 26. Oktober an, als Iwan III. seine Kräfte vom Fluss abzog und diese in einer nahegelegenen Stadt zusammenzog. Der Fluss fror zu und konnte nicht mehr als Schutz genutzt werden. Ahmad hielt sich bis zum 6. November an der Ugra auf und zog sich dann zurück, nicht bereit, unter den winterlichen Bedingungen zu kämpfen.

Am Fluss Ugra kämpfte auch eine neuartige russische Armee. Ahmad musste das respektieren. Die Armee hatte eine strenge vertikale Hierarchie. Es war keine Armee eines einzelnen Fürstentums, sondern eines neuen zentralisierten Staates, in das sich das Moskauer Herzogtum unter der Herrschaft von Iwan III. verwandelt hatte.

Wie es Karl Marx vor 150 Jahren formulierte, sah sich Europa, dass zu Beginn der Herrschaft Iwans wenig über das zwischen Tataren und Litauern eingequetschte Russland wusste, plötzlich an seiner östlichen Grenze mit einem riesigen Reich konfrontiert.  

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