30 Jahre nach Tschernobyl: „Wir brauchen reale Entschädigungen“

Gleb Fedorov
Heute vor 30 Jahren kam es im Kernkraftwerk Tschernobyl zum Super-GAU. Wie leben die Bewohner der angrenzenden Gebiete heute? Welche Hilfen gibt es für die Opfer der Reaktorkatastrophe? RBTH hat sich vor Ort umgesehen.

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Wen es irgendwann einmal in die Stadt Nowosybkow im Gebiet Brjansk, nicht weit entfernt von der russischen Grenze zur Ukraine und zu Weißrussland, verschlägt, wird eine verschlafene Kleinstadt vorfinden. Wie in vielen der abgelegenen Gegenden Russlands stößt man hier auf schlechte Straßen, halb verlassene Dörfer, verwilderte Felder und alte Busse aus Sowjetzeiten. Kein Schild und auch sonst kein Zeichen weist darauf hin, dass diese Stadt vor 30 Jahren, nach der Reaktorkatastrophe im Kernkraftwerk Tschernobyl, in der Evakuierungszone lag. Der Südwesten von Brjansk hatte unter den Folgen des Super-GAUs zu leiden wie keine andere russische Region.

In der Evakuierungszone

Mehrere hundert Ortschaften des Gebietes lagen in der Evakuierungszone, bis zu 200 Kilometer entfernt vom Unglücksreaktor. Niemand wurde gezwungen, den Ort zu verlassen: Wer wollte, durfte bleiben. Der Grund für diese erstaunlich liberale Regelung lag zum einen in mangelnder Erfahrung mit Atomunfällen in der Sowjetunion vor Tschernobyl. Es gab kein Überwachungssystem und kein Verfahren für die Bewertung von Strahlenschäden in großen Gebieten. Die Arbeiten zogen sich daher über Jahre hin. Nicht nur die Bevölkerung, auch die Behörden kannten das tatsächliche Ausmaß der Katastrophe nicht.

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Zweitens fielen die Havarie und die Beseitigung der Folgen in die Endphase der Sowjetunion und in die 1990er-Jahre, als es für Dekontaminierung und Umsiedlungen schlicht kein Geld gab. Viele Menschen wollten zudem nicht umziehen, ihre Häuser nicht verlassen.

Der 40-jährige Viktor Streljukow, seine Eltern und bereits seine Vorfahren wurden in Swjatsk, einem Dorf der Altgläubigen 30 Kilometer von Nowosybkow entfernt, geboren. Damals, vor dem Unfall, war Swjatsk ein lebendiges Dorf. Zwei Kirchen gab es. Heute wächst hier Wald. Die Mehrheit der Bewohner ist weggezogen. Zwischen den Bäumen sind die Überreste ihrer Häuser noch zu sehen. Die radioaktive Strahlung liegt hier bei 0,6 Mikrosievert in der Stunde. Als Standardwert gilt in Russland ein Wert von 0,15.

Am Dorfrand gibt es einen alten Friedhof, auf dem bis heute die Einheimischen beigesetzt werden, und einen Glockenturm, den Streljukow anstelle der abgebrannten Kirche selbst gebaut hat. Viktor und seine Eltern gehören zu den wenigen, die nach der Katastrophe das Dorf nicht verlassen haben. Seine Eltern sind mittlerweile gestorben. Er selbst ist an Krebs erkrankt.

Krankheiten und Behinderungen als Spätfolgen

1986 war die Schülerin Galina Swiridenko 16 Jahre alt, so alt wie ihr Sohn Denis heute. Der Junge ist ohne Ohren auf die Welt gekommen, mit verdrehter Wirbelsäule und einer Entwicklungsstörung. Acht Operationen musste er bisher über sich ergehen lassen. Galina brauchte drei Jahre, um nachzuweisen, dass es einen Zusammenhang zwischen der Strahlenbelastung und den Entwicklungsanomalien gibt. Außer Denis wurden im Jahr 2000 in Nowosybkow sieben Kinder mit Down-Syndrom geboren. Nach einer Statistik, die Ljudmila Komogorzewa, ehemalige Vizegouverneurin des Gebietes Brjansk und heute eine namhafte Ökologin, anführt, stieg nach Tschernobyl der Anteil der chronisch kranken Kinder von acht auf 80 Prozent. Bei den Bewohnern des Gebietes ist das Risiko einer Krebserkrankung um 150 Prozent höher als im russischen Durchschnitt.

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Die Gefahr geht nicht von der Strahlung als solcher aus, sondern von den kleinen angesammelten Strahlendosen, die vor allem durch regionale Produkte in den Organismus gelangen. Im Laufe der Jahre kann die angesammelte Strahlung Krebs auslösen und sich nicht nur auf einen menschlichen Organismus, sondern auch auf seine Nachkommen auswirken.

Alles ist verstrahlt

Für die einheimische Bevölkerung ist die Strahlenbelastung so selbstverständlich, dass hier niemand gerne darüber spricht. Dabei ist alles was an diesen Orten wächst und gewonnen wird mit Radionukliden verseucht: der Boden, das Wasser, Holz, Wildtiere, Pilze und Beeren. Angesichts niedriger Löhne sind der Wald und der Garten jedoch unerlässliche Quellen für die Lebensmittelbeschaffung. „30 Jahre – und nichts ist passiert“, sagen die Einheimischen.  Doch das Risiko ist nach wie vor sehr hoch. Die Mitarbeiterin eines Strahlenlabors in der Region erklärt, dass die Produkte heute nicht weniger als vor 30 Jahren belastet sind, auch wenn der Boden etwas sauberer geworden ist. Zur Begutachtung eingeschickte getrocknete Pilze aus dem vergangenen Jahr wiesen beispielsweise eine Strahlenbelastung von 100 000 Becquerel pro Kilogramm auf – gegenüber einem Normwert von 2 500.

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Dennoch schrumpfte im Jahr 2016 die Liste der evakuierten Ortschaften im Gebiet Brjansk von 226 auf 26. Zu den offiziell unbedenklichen Städten zählt mittlerweile auch Nowosybkow. Mit der Liste wurden auch die Beihilfen für die Bewohner sogenannter gefährlicher Regionen gekürzt – im Durchschnitt von 2 000 auf 1 000 Rubel im Monat.

Keine wirtschaftliche Perspektive

Die für die Rehabilitation der Region zugewiesenen Investitionen des Staates und der Kommunen reichen nicht. Die alteingesessenen Bewohner möchten dennoch bleiben. „Man kann hier leben, sollte aber die Vorschriften des Strahlenschutzes beachten“, meint der Arzt Viktor Chanajew. „Die Wälder müssten gesäubert, unbelastete Nahrungsmittel und Spezialdüngemittel angeliefert werden. Dabei sollte der Staat helfen, er hilft aber nicht. Es interessiert uns nicht, wie diese Zone genannt wird. Wir brauchen reale Entschädigungen“, fordert er. „Zuschüsse in Höhe von 2 000 bis 6 000 Rubel wären eine große Hilfe in einer Region, in der es wenig Arbeit gibt und 10 000 Rubel schon ein guter Lohn sind“, konkretisiert Chanajew.

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Oxana Inaschewskaja, die Vorsitzende des Mütterrates von Nowosybkow, sagt, die Bewohner seien bereit, die schwierigen Aufgaben zu bewältigen, wirtschaftliche Perspektiven aber sähen sie nicht: „Die wirtschaftliche Entwicklung dieser Regionen ist mit Tschernobyl zum Erliegen gekommen.“

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