MOSCOW, RUSSIA - MAY 22, 2017: Russian video blogger Alexandra Balkovskaya (Sasha Spilberg) speaks during parliamentary hearings on the youth policy in Russia, at the Russian State Duma.
Marat Abulkhatin/Russian State Duma Photo Service/TASSFoto: Marat Abulkhatin/Russian State Duma Photo Service/TASS
Am Rednerpult der russischen Duma steht eine 19-jährige Bloggerin und erklärt innerhalb von fünf Minuten, warum Abonnenten nichts anderes als Wähler sind und jedes Video Miniwahlen. „Ich wüsste nicht, dass in irgendeinem Land je ein Video-Blogger am Rednerpult eines Parlaments gestanden hätte … Ich bin seit meinem dreizehnten Lebensjahr transparent … Werden Sie das auch! Produzieren Sie ein YouTube-Video, posten Sie Einträge auf „VKontakte“ oder in irgendwelchen anderen sozialen Netzen“, lautet die mit zitternder Stimme vorgebrachte Botschaft der jungen Frau, die ihre Rede von ihrem Smartphone abliest.
Die Bloggerin heißt Alexandra Balkowskaja, im Netz kennt man sie unter dem Pseudonym Sascha Spielberg. Sie ist ein YouTube-Star unter 10-14-jährigen Schülern, bei denen sie unter anderem durch Geschichten über ihren Hamster beliebt wurde. Heute sind Spielbergs Themen eher, mit welchen Seifenspendern sich ein Badezimmer verschönern lässt oder wie man sich für Instagram fotografieren lassen sollte.
Die Staatsduma hat sie aber aus einem anderen Grund besucht. Spielberg sieht es als ihre Mission, einen Dialog zwischen jungen Leuten, die YouTube, nicht mehr das Fernsehen als Informationsmedium nutzen, und dem Staat anzukurbeln. Es geht um eben jene Jugendliche, die vor ein paar Monaten für die Regierung unerwartet in 100 Städten gegen Korruption protestierten. Die Zeitung „Kommersant“ nennt das eine Instrumentalisierung von Videobloggern, um gegen Straßenproteste vorzugehen, Journalisten sehen in YouTube die politische Mode der Saison.
Foto: EPA
Jugendpolitik kämpft in Russland vor allem mit dem Problem ihres reaktiven Charakters, sagen die Politologen. Über die Jugend fängt man an nachzudenken, wenn die Situation schon fast außer Kontrolle geraten ist.
In der Mitte der 2000-er etablierte sich die Organisation „Naschi“ als Vorreiter einer regierungstreuen Jugendbewegung. „Sie war eine Antwort auf die Welle der „bunten“ Revolutionen, die 2005 den GUS-Raum durchzog. Und sie hatte Erfolg damit. Am 15. Mai versammelten sich mehr als 60.000 Demonstranten auf dem Leninski prospekt in Moskau unter patriotischen Slogans und Fahnen. Sie erklärten, sie seien spontan bereit gewesen, für die Regierung auf die Straße zu gehen. Wenn nötig, könnten sie aber 300.000 Leute mobilisieren, das sei kein Problem“, erinnert sich der kremlnahe Leiter des „Instituts für politische Forschungen“ Sergej Markow in einem Gespräch mit RBTH.
„Naschi“ wurde finanziell großzügig unterstützt. Im Zeitraum 2007 bis 2010 flossen in Form von Staatsaufträgen und finanziellen Zuwendungen rund 457 Millionen Rubel [ungefähr 8,3 Mio. USD] an die Bewegung und ihr nahe stehende Organisationen, private Mittel und Spenden nicht mitgerechnet. Danach aber ging es bergab mit der Bewegung.
Man verlagerte anfangs den politischen Schwerpunkt auf soziale Projekte, dann aber versiegten auch die. Vor allem, nachdem die Organisation sich 2011 nicht hinter die Regierung stellte, die wegen des Vorwurfs gefälschter Wahlen mit großen Protesten konfrontiert war. „Das Problem war nicht, dass das Format nicht mehr funktionierte. Die Arbeit wurde verworfen, die Bewegung war eingeschlafen“, sagt Markow.
Der jüngste Protest vom 26. März, den der Film des Oppositionellen Alexei Nawalny über Korruption ausgelöst hatte, wurde ebenfalls im Internet vorbereitet. Daher die Idee der Abgeordneten, sich über virtuelle Kanäle Zugang zur Jugend zu verschaffen.
Die ersten Gehversuche auf diesem Parkett wurden von Popmusik begleitet. Ein paar Wochen vor Spielbergs Rede in der Staatsduma kursierte auf YouTube ein lautstarkes Video über Schüler, die sich an Straßenprotesten beteiligen.
„Du willst Veränderungen, Kleiner? Dann fang bei Dir an“, singt eine affektierte Lehrerin und rät, „sich nicht in die Politik und Waffenlehre zu mischen“. Wie bald darauf in liberalen Medien unter Berufung auf zwei kremlnahe Quellen verlautete, hatte dieses Video der Ex-Senator und Ex-Mitarbeiter der Präsidialverwaltung Nikita Iwanow beauftragt. Die Produzenten sollen dafür 2 Millionen Rubel erhalten haben [etwa 35500 USD].
Alischer Usmanow / Screenshot
Die größte Resonanz allerdings erntete die Videoansprache des Oligarchen Alischer Usmanow [Platz 5 der Forbes-Liste der reichsten Russen mit einem Vermögen von 15,2 Mrd. USD] an Nawalny, die innerhalb von 24 Stunden über 1 Million Mal angeklickt wurde. Usmanow war einer der zentralen Figuren in Nawalnys Film, die von der Opposition der Korruption überführt wurden. In seiner Videobotschaft spielt der Oligarch unzählige Varianten durch, seinen Kontrahenten anzusprechen. Von „entschuldige, bitte“ bis „Lügner“ oder „Du wirst sowieso vor mir antworten müssen“. Seine Rede beschließt er mit den Worten: „Pfui, Alexei Nawalny“, die umgehend zum Internet-Hype wurden.
Die Frage, „warum Usmanow Nawalny auf dessen eigenem Feld schlagen wollte“ wurde in vielen russischen Medien erörtert. Unstrittig scheint, dass Usmanow einen mehr oder weniger originellen Versuch unternommen hat, die Generation der Blogger anzusprechen.Das bedeutet aber nicht, dass 2018 Wladimir Putin seine Ansprachen auf YouTube postet oder dass dort 450 neue Abgeordneten-Kanäle erscheinen, glaubt Markow. Auch wird man bei den Jugendbewegungen nicht sparen (die Ministerien prüfen bereits konkrete Summen). „Aber die Internet-Kommunikation wird sich weiter entwickeln, und zwar mit großem Engagement. Eine andere Frage ist, wie erfolgreich dieses Vorhaben ist. Die Regierung bewegt sich hier auf einem unsicheren Boden und möchte vor allem mit den „Folgsamen“ arbeiten. Die aber sind fast immer durch bürokratische Strukturen unbeweglich“, schätzt der Experte. „Selbst Usmanows Video kann ich kaum als Botschaft an Blogger gelten lassen. Da gibt es viel zu viele Fehler. Es zeigt viel mehr, dass die staatlichen Organe einiges lernen müssen, um in dieser Sprache kommunizieren zu können. Und dass sie auf diesem Gebiet noch einen weiten Weg vor sich haben. Was hat Usmanow denn getan? Auf Augenhöhe gedroht?“
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