Reproduction of "Portrait of Inessa Armand" by A.Lurye.
Mikhail Filimonov/RIA NovostiSentimentalität kann man Wladimir Lenin, dem Gründer der Sowjetunion, nicht nachsagen. Sein ganzes Leben lang stritt er sich sogar mit seinen engsten Freunden unerbittlich wann immer es um politische Standpunkte ging. An die Macht gekommen, unterzeichnete er Erschießungsbefehle – ohne zu zögern. Eines der wenigen Ereignisse, die den energischen Politiker schwach werden ließen, geschah am 12. Oktober 1920: An diesem Tag wurde seine Kampfgenossin, Freundin und – so mutmaßt man – Geliebte Inessa Armand zu Grabe getragen.
„Als wir dem Trauerzug zum Grab folgten, war Lenin nicht wiederzuerkennen. Er ging mit geschlossenen Augen und es hatte den Anschein, als würde er jeden Moment zu Boden sinken“, erinnerte sich die Revolutionärin Alexandra Kollontaj. Armand war wenige Wochen zuvor in Naltschik, rund 1 500 Kilometer von Moskau entfernt, jäh an den Folgen einer Choleraerkrankung verstorben. Lenin traf ihr Tod schwer. „Ich fürchte“, schrieb seine Frau Nadjeschda Krupskaja, „Wolodja könnte über Inessas Tod nicht hinwegkommen. Er weint und starrt unentwegt in eine Ecke“.
Die Französin Inessa Armand kam im Alter von 15 Jahren nach Moskau, nachdem zuvor ihr Vater verstorben war. Dort wurde sie von ihrer Großmutter und Tante aufgenommen. 1893 heiratete sie den Industriellen Alexej Armand, mit dem sie drei Kinder hatte. Als sie sich aber in Wladimir Armand, den jüngeren Bruder ihres Mannes, verliebte, verließ sie Alexej, auch wenn sich das Ehepaar nie scheiden ließ. Ihr neuer Lebensgefährte Wladimir „infizierte“ sie mit seinen revolutionären Ideen. 1904 trat Inessa der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Russlands bei. Für ihre Teilnahme an der Revolution von 1905 wurde sie erstmals verhaftet, 1907 dann in den russischen Norden verbannt, von wo sie 1908 in die Schweiz floh.
Wladimir starb dort wenig später an Tuberkulose. Armand war von nun an für ihre insgesamt fünf Kinder allein verantwortlich, setzte aber ihre Arbeit für die Sache der Revolution fort. Sie stand dabei in regem Austausch mit französischen Sozialisten, übersetzte revolutionäre Literatur und erwarb einen Abschluss in Jura.
Ihre „Kollegen“ aus bolschewistischen Kreisen äußerten sich sehr positiv über Armand. „Die Geringschätzung der materiellen Voraussetzungen des Lebens, die aufmerksame Beziehung zu ihren Genossinnen und Genossen, und die Bereitschaft, mit ihnen das letzte Stück Brot zu teilen, waren charakteristische Merkmale ihres Wesens“, erinnerte sich der Revolutionärin Ljudmila Stal. Viele schrieben über ihre Liebe zum Leben und den ihr eigenen Frohsinn. Sie widmeten ihrer Schönheit und ihrem Charme anerkennende Worte.
1909 kam es dann zu einer schicksalhaften Begegnung: Armand lernte den damaligen Leiter der Fraktion der Bolschewiki kennen, dessen Bücher ihren Weg zur Sozialistin einst begleitet hatten. Sein Name: Wladimir Lenin. Einige Jahre lebten und arbeiteten sie in Paris. Viele Zeitgenossen mutmaßten, dass die Beziehung der beiden Sozialisten über den Rahmen einer Freundschaft hinausging. „Lenin konnte seine mongolischen Augen nicht von dieser kleinen Französin lassen“, bemerkte der französische Sozialist Charles Rappoport. In Briefen sprach Lenin seine Genossin als „liebe Freundin“ an und brachte ihr große Fürsorge und Zärtlichkeit entgegen.
„Beinahe die gesamte Arbeit hier in Paris war tausendfach mit dem Gedanken an Dich verwoben“, schrieb Armand einige Jahre später. Der Brief spricht eine klare Sprache. Die Revolutionärin war in ihren Mitkämpfer und Lehrer verliebt: „Ich habe Dir so gerne nicht nur zugehört, sondern Dich beim Reden beobachtet. Erstens lebt Dein Gesicht dabei auf, zweitens fühlte ich mich leicht dabei, weil Du es nicht bemerkt hast...“
Als Lenin Inessa Armand begegnete, war er bereits elf Jahre mit Nadjeschda Krupskaja, einer nicht nur tatkräftigen Revolutionärin und Gehilfin, sondern auch aufrichtig liebenden Ehefrau, verheiratet. Trotz der Rivalität um den Bolschewikenführer entwickelte sich zwischen den Frauen eine Freundschaft. Krupskaja schrieb: „Es wurde gemütlicher und lustiger, wenn Inessa kam.“ Die wiederum sagte liebevoll über Krupskaja: „Ich habe sie fast vom ersten Moment an geliebt. In ihrer Beziehung zu den Genossen zeigt sie eine besonders bezaubernder Weichheit und Zärtlichkeit.“
Lew Danilkin, Autor einer jüngst erschienenen Lenin-Biografie, weist darauf hin, dass die Affäre zwischen Lenin und Armand nicht belegt ist – lässt man die Erinnerungen der Zeitgenossen unbeachtet. Er vertritt jedoch die These, dass sich die Beziehungen zwischen Lenin, Armand und Krupskaja im Einklang mit der neuen sozialistischen Moral entwickeln konnten, die Tschernyschewski in seinem Roman „Was tun“ beschrieb: „Es ist praktisch alles erlaubt – sofern es auf gegenseitiger Achtung beruht.“ Vor diesem Hintergrund, glaubt Danilkin, konnten Krupskaja und Armand ihre gegenseitige Eifersucht ausräumen – sie waren Gleichgesinnte, die einander schätzten.Die Beziehung zwischen Lenin und Armand währte nicht lange. Der Revolutionär entschloss sich, seiner Ehefrau, die schon so viele Jahre an seiner Seite lebte, treu zu bleiben. In einem Brief aus dem Jahr 1913 schrieb Inessa voller Gram: „Ich habe mich von Dir getrennt, getrennt, mein Lieber!“ Sie akzeptierte Lenins Entscheidung.
Ihre Treue zu ihm und der Revolution bewahrte sich „Genossin Inessa“ bis zum Lebensende. Trotz ihrer französischen Staatsbürgerschaft, mit der sie in Europa unbescholten leben konnte, machte sie sich 1917 mit Lenin und Krupskaja auf den Weg nach Russland, beteiligte sich an der Oktoberrevolution und arbeitete für die junge sowjetische Republik. Dabei lebte sie, wie Lew Danilkin schreibt, in einer kalten Wohnung unter scheußlichen Bedingungen. Als die Cholera sie dahinraffte, mit der Armand sich – welch Ironie des Schicksals – während eines Kuraufenthaltes im Süden ansteckte, war sie gerade einmal 46 Jahre alt.
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