Wie stellt man sich einen orthodoxen Priesterseminaristen eigentlich vor? Ein introvertierter junger Mann, vielleicht 21, in einem Talar, der sich ins Evangelium vertieft? Studenten der Sankt Petersburger Geistlichen Akademie würden dazu sagen: „Die Zeiten gehen, die Vorurteile bleiben.“ Denn im 21. Jahrhundert leben selbst orthodoxe Theologiestudenten nicht von der Heiligen Schrift allein: Sie fahren Skateboard, machen Selfies auf Hausdächern und schlendern bis zum Morgenrot durch die Stadt an der Newa mit ihren herrlichen weißen Nächten.
Einer von ihnen ist Wlad Grigorowitsch. Jeder habe eine eigene unvergleichliche Geschichte, sagt der junge Mann – und erzählt uns seine.
„Gott hat mich geführt“
Dass er einmal in einer Geistlichen Akademie studieren würde, hätte er wirklich nicht gedacht. Als Kind wollte er Katastrophenhelfer werden. „Als ich klein war, nahm mich mein Vater mit in die kleine Kirche unseres sibirischen Städtchens. Es gefiel mir immer, dass es dort ruhig und schön war“, beginnt Wlad. „Mein Vater ging von uns, als ich 13 war. In der Familie fing es zu bröckeln an. Einmal lag ich die ganze Nacht wach und grübelte, warum Menschen leiden. Ich hatte die Idee, zu beten, und war danach sehr erleichtert.“
Diese Nacht war der Wendepunkt in Wlads Leben. Er begann, in die Kirche zu gehen, half dem Priester als Küster. „Eines Tages sagte man mir, ich würde einen guten Priester abgeben. Damals scherzte ich nur: „Ich schaffe es ja nicht mal in meiner Berufsschule pünktlich zur ersten Stunde zu kommen, wie soll das denn in der Geistlichen Akademie werden?“ Später habe ich begriffen, dass das mein Weg ist. Ich glaube nicht, dass ich in die Kirche gekommen bin, viel eher hat Gott mich hierhin geführt.“
/ Ruslan Shamukov
„Seit meiner Kindheit war ich ein Fan Zenit Sankt Petersburg. Mein Papa träumte davon, dass ich einmal auf die Fußball-Akademie komme. Viele Jahre später ging ich wirklich nach Sankt Petersburg für die Aufnahmeprüfung, kam aber an eine ganz andere Akademie: die Geistliche.“
Jetzt ist Wlad im zweiten Studienjahr. Das Leben der Seminaristen folgt einem klaren Tagesplan: Werktags frühmorgens gibt es ein gemeinsames Gebet, danach Frühstück. Dann hat jeder Student eine halbe Stunde bis Vorlesungsbeginn. Freizeit gibt es nach dem Mittagessen. Um 22 Uhr kommt das gemeinsame Abendgebet. Samstags und sonntags kümmern sich Seminaristen um die Heiligen Messen in den Kirchen der Stadt.
„Ich konnte mich gerade noch zurückhalten“
Wlads größte Leidenschaft ist das Skaten. „Ich liebe den Nervenkitzel der schnellen Fahrt und der Stunts – das beste Mittel gegen Depression in dieser verrückten Zeit.“ Wlads Freunde sind fast alle Seminaristen. Sie sprechen übers Studium, streiten über Philosophie, spazieren gerne durch Sankt Petersburg. Wlad zeigt ihnen dabei oft hippe Plätzchen: Anticafés, freie Buchläden…
Von Viktor Hugo ist Wlad begeistert: „Ein echter Christ. Er hat mit jeder seiner Figuren tief mitempfunden.“ Auch Remarque gefällt ihm sehr: „Niemand hat derart ehrlich über Freundschaft geschrieben wie er in den 'Drei Kameraden'.“ Musik liebt der Seminarist auch, von Klassik – Schubert, Vivaldi – bis zum guten Film-Soundtrack – Interstellar von Hans Zimmer zum Beispiel. Die Akademie vergibt oft Tickets für die Philharmonie, die Kapella oder den Konzertsaal des Mariinski-Theaters. „Einmal war ich auf einem Jazz-Konzert und konnte mich gerade noch zurückhalten, sonst hätte ich angefangen, in dem Saal zu tanzen.“
Seit seiner Kindheit spielt Wlad Fußball. Jetzt trainiert er mit der Mannschaft der Akademie. Mehrmals in der Saison finden Freundschaftsspiele mit Kindern aus Heimen und Besserungsanstalten statt. Für Wlad ist das die Gelegenheit, mit ihnen in Kontakt zu kommen und auf ihre Fragen zu Gott einzugehen.
Vor ein paar Monaten hat Wlad begonnen, mit der Fotokamera zu experimentieren. Wie eine Kamera genau funktioniere, verstehe er nicht, sagt der junge Mann bescheiden. Er versuche einfach nur einen Augenblick einzufangen, eine Emotion, versuche seine Sicht festzuhalten, auf das, was Menschen in der Hektik für gewöhnlich übersehen.
„Mehr als eine Uni“
Um in die Sankt Petersburger Geistliche Akademie aufgenommen zu werden, muss jeder Bewerber erst zu einem persönlichen Gespräch mit dem Rektor. Ein Gespräch erwartet die Studenten auch, wenn sie beschließen, zu heiraten. Sergej, ein Freund von Wlad, hat vor wenigen Tagen den Segen für die Ehe erhalten. „Das ist eine altertümliche Tradition. Es kam schon mal vor, dass der Rektor das junge Pärchen darum bat, etwas abzuwarten, und nach einem halben Jahr trennte sich das Paar“, erzählt Wlad.
„Die Akademie ist für mich mehr als nur eine Uni. Nicht alle Absolventen werden Priester. Unsere wichtigste Aufgabe ist es, während des Studiums den wahren Christen in uns zu erziehen.“
Jeder Seminarist hat in der Akademie sein „Amt“, sein persönliche Aufgabe fürs Gemeinwohl – im Russischen „Posluschanije“. Die Profile der Akademie in den sozialen Netzwerken zu pflegen, ist zum Beispiel so ein „Ehrenamt“. Wlads Aufgabe ist es, Besuchern das Haus zu zeigen. Sein Lieblingsort ist die Bibliothek. Mehr als 300 000 Bücher sind hier versammelt: Klassiker, christliche Literatur und auch ganz besonders wertvolle Werke wie eine Ausgabe des Evangeliums aus dem 18. Jahrhundert in spezieller Fassung für die Liturgie.
Die Ferien verbringt Wlad gerne fernab der Stadthektik, im Männerkloster des Heiligen Sergius vor den Toren Sankt Petersburgs. „Dieser Ort ist inzwischen eine zweite Heimat für mich, hier ist es ruhig, hier habe ich auch meinen geistigen Ziehvater gefunden: Pater Andrej. Ich kann ihm jede Frage stellen über kirchliches oder weltliches Leben und kann mir sicher sein, ein weise Antwort zu bekommen.“
„Das ist wahres Glück“
Und noch eine wichtige Tradition haben die Seminaristen: das Sozialpraktikum. Jeden Sonntag fährt Wlad ins Rehabilitationszentrum „Linija Schisni“ („Lebenslinie“). Dort hält er Vorträge für Menschen, die keinen Sinn mehr im Leben sehen – Drogenabhängige, Obdachlose, Arbeitslose.
/ Ruslan Shamukov
„Eines Tages kam ich in meine Heimatstadt zurück, Freunde haben mich eingeladen, zusammen Silvester zu feiern. Auf der Party habe ich dann mit jemandem über Gott diskutiert. Und plötzlich sah ich, dass ganz viele andere Menschen um uns herumstanden. Ich habe ja nicht verraten, dass ich auf der Akademie studiere. Aber alle haben angefangen, mir Fragen über Gott und Glauben zu stellen. Ich glaube, heute brauchen viele Glauben und Hoffnung, meiden aber die Religion wegen der Vorurteile, die noch zu Sowjetzeiten entstanden sind und sich bis heute hartnäckig halten. Zu verstehen, dass ich diese Situation ändern kann, wenn ich mit Menschen in Kontakt komme, ist für mich das wahre Glück.“
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