Karl Lagerfeld, Kreativchef des Modehauses Chanel, sagte einst: “Jogginghosen sind ein Zeichen der Niederlage. Du hast Kontrolle über dein Leben verloren, also hast du dir ein Paar Jogginghosen gekauft.“ Sollte dies wirklich zutreffen, dann ist vielen Russen die Kontrolle über ihr Leben entglitten.
Trainingsanzüge haben in Russland oft keinen Bezug zum Sport – insbesondere in den ländlichen Gegenden. Stattdessen tragen sie viele als alltägliche Bekleidung und sie wurden so zu einer Art nationalem Symbol. Schauen Sie sich zum Beispiel mal diese Memes an! Natürlich trägt nicht jeder in Russland die berühmten Adidas-Anzüge, insbesondere heute nicht mehr, aber die Bilder sind zweifelsohne amüsant.
Vor einigen Jahrzehnten jedoch wurden Trainingsanzüge noch ganz anders gesehen. Tatsächlich galten sie beinahe als stilvolle Bekleidung. Aber warum?
Zu Zeiten des Kalten Krieges, kurz bevor Moskau Gastgeberstadt der Olympischen Spiele 1980 war, schloss Adidas eine Abmachung mit der sowjetischen Regierung und stattete die Olympiamannschaft des Landes mit einer gestreiften Uniform aus.
Nicht dass Leonid Breschnew und Konsorten besonders glücklich darüber waren, dass die sowjetischen Sportler in westlicher Kleidung aufliefen, aber die Qualität der Textilien östlich des Eisernen Vorhangs war eindeutig minderwertig. Die UdSSR tat ihr bestes, alle kapitalistischen Elemente auf den Anzügen zu entfernen, weshalb diese ohne Adidas-Emblem auskamen und mit nur zwei anstelle der für Adidas klassischen drei Streifen versehen waren.
Das hinderte die Öffentlichkeit jedoch nicht daran, zu realisieren, dass ihre Helden Adidas trugen. Die Beliebtheit der Marke schoss in der Sowjetunion nach Ende der Spiele steil nach oben.
In den 1980er-Jahren wurden die Adidas-Trainingsanzüge also zu einem Zeichen des ultimativen Stils. Da es aber schwierig war, Produkte der Marke legal zu erwerben, entstand eine ganze Industrie, die billige Kopien herstellte. Die berühmten drei Streifen wurden auf alle Arten von Kleidung geklebt – und auch deshalb fühlten sich all jene, die sich das Original leisten konnten, als trügen sie maßgeschneiderte Anzüge.
Die Behörden beobachteten den Trend mit Argwohn und sahen die Marke auf einer Linie mit Jeans, Kaugummi und anderen westlichen Konsumgütern – aber viel konnten sie nicht dagegen tun. Selbst ein kleines Liedchen entstand, das sich im Russischen sogar reimte: „Der, der Adidas trägt, wird morgen die Heimat verkaufen!“
Nach dem Ende der Sowjetunion wurden Trainingsanzüge – auch jene anderer Marken – zur Lieblingskleidung der kriminellen Unterwelt. Auch Gefangene trugen Trainingsanzüge, da viele Gefängnisse keine Uniformen besaßen. In den 1990er-Jahren kamen zudem auch einige ehemalige Profisportler auf den kriminellen Zweig, um Geld zu verdienen. Diese trugen dann einfach weiter das, was sie früher zum Training benutzten.
Der Kleidungsstil fand seinen Weg sogar an die Spitze einiger Unternehmen, die aber meist ebenfalls von Kriminellen geleitet wurden. Dennoch: Die Vorstellung, dass ein einflussreicher Geschäftsmann im Adidas-Trainingsanzug ins Sitzungszimmer stolzierte, war zu jener Zeit durchaus realistisch.
Auch Kleinkriminelle, die gopniks genannt wurden, trugen Trainingsanzüge – um ihren großen Vorbildern nachzueifern. Diese griffen dabei aber natürlich meist auf die gefälschten Kopien zurück, die es immer noch zahlreich zu kaufen gab. Der Trend der gefälschten Adidas-Produkte brachte zudem einige interessante Produkte auf den Markt: Anzüge der Marken „Adidos“ und „Abibas“ sind bis heute Grundlage vieler Scherze.
2008 schrieb ein Nutzer der Plattform LoveHate.ru: „Mit dieser Kleidung kann man nicht ins Theater oder zu einer Hochzeit gehen, aber für den Alltag – warum nicht?“ Die Zeit jedoch steht nicht still und die Beliebtheit des Alltags-Trainingsanzugs nahm seitdem deutlich ab.
Im Oktober 2017 listete der Autor Pawel Gortschew auf der Plattform Quora.com all jene Gesellschaftsgruppen auf, die heute Trainingsanzüge tragen: gopniks, Gangster und all jene, die lange Strecken mit dem Zug zurücklegen müssen. Zu dieser Aufzählung muss man natürlich aber auch jene hinzurechnen, die die Bekleidung für ihre ursprüngliche Bestimmung nutzen: den Sport.
Ja, viele Russen tragen Trainingsanzüge auf Zugreisen – auch wenn sie keine gopniks sind. Viktor Wachstein, Professor für Sozialwissenschaften, erklärt das Phänomen folgendermaßen: „Ein Trainingsanzug ist heute eine halb-öffentliche Form der Bekleidung, und ein Zugabteil ist ein halb-öffentlicher Ort. Deshalb passen die beiden ganz gut zueinander – vermutlich. Natürlich ist es aber auch einfach gemütlich, einen Jogginganzug zu tragen.“
Deshalb werden Trainingsanzüge wohl immer einen Platz auf Russlands Straßen haben. Twitter-Nutzer Wiktor Gubernijew hat zudem eine weitere Erklärung: „Weil das Leben in Russland ein endloser Hindernislauf ist.“ Vielleicht ist es deshalb ja durchaus sinnvoll, immer einen Trainingsanzug zur Hand zu haben.
Dieser Artikel ist Teil der Serie “Google-Fragen”, in der Russia Beyond einige der häufigsten zu Russland gestellten Fragen beantwortet.
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