Mitte Juni. In Krasnojarsk ist es bereits warm, manchmal sogar heiß. Auf dem Passagierschiff „Walerij Tschkalow“ geht es ins Polargebiet. 1800 Kilometer – die Fahrt auf dem Jenissej in den Norden dauert drei Tage, zurück in den Süden fünf.
„Verfall, absoluter Verfall!“, mit einem Wort charakterisiert mein Kajütennachbar Jewgenij seine Heimatstadt Igarka. „Bei uns gibt es kein Theater, kein Kino. Nichts gibt es!“ „Was sagst du denn da?“, unterbricht ihn seine Mutter Jekaterina – „Tante Katja“ stellt sie sich vor. „Im Großen und Ganzen leben wir dort doch ganz gut.“ Die beiden kehren gerade aus dem Urlaub zurück. Sie waren bei Verwandten in Tscheljabinsk. Wie jedes Jahr.
Zu dritt fahren wir in der dritten Klasse auf dem ersten Deck. In der Kajüte befinden sich vier hölzerne Liegen, zwei Schränke und ein Tisch unter dem Fenster mit Blick aufs Wasser. Von unten her riecht es nach feuchtem Holz. Auf dem zweiten und dritten Deck sind die „weichen Klassen“ – zweite, erste und Luxus-Klasse mit Matratzenliegen. Die Einrichtung ist aus Holz, alles ist warm und gemütlich ausgeleuchtet.
Noch bevor wir ablegen, laufen die Passagiere auf die offenen Decks. Während die letzten Mitreisenden noch ihr Gepäck einräumen, winken die Anderen schon ihren Verwandten am Ufer. Es ist das erste Passagierschiff in diesem Jahr. Seine Abfahrt bedeutet Sommerbeginn für die Bewohner des Nordens: Urlaub, Besuche, Reisen. Die Stimmung an Bord ist ausgelassen.
Auf dem Jenissej verkehren noch zwei Passagierschiffe: „Walerij Tschkalow“und „Alexandr Matrosow“. Touristen trifft man selten. Früher fuhren die auf der „Anton Tschechow“, dem größten Passagierschiff des Krasnojarsker Gebietes. 2003 aber wurde die „Tschechow“ an die Wolga verkauft.
Auf unserer „Tschkalow“ aber gibt es noch mehr Touristen: Lara und Mauro, ein italienisches Studentenpärchen aus der Schweiz, und der pensionierte Geschäftsmann Armin aus Hamburg fahren bis Jenissejsk, einen Tag von Krasnojarsk entfernt. John aus Dresden fährt gar bis Turuchansk, kurz vorm Polarkreis.
Je weiter wir nach Norden fahren, desto breiter wird der Jenissej. Ab dem Polarkreis gleicht er bald einem langgezogenen Meer. Jewgenij interessiert sich nicht für die Landschaft draußen und schläft. „Tante Katja“ erzählt von ihrem Garten in Igarka: „Ja wir haben sogar eine eigene Kartoffelsorte, die Polarkartoffel. Die muss sehr schnell wachsen, weil der Sommer ja nur drei Monate dauert.“
Aber bis dahin liegt noch ein weiter Weg vor uns: vorbei an den Kasatschinskie-Wasserwirbel, der Inselgruppe Worogowskoe, wo an einer Steinwand in großen, weißen Lettern geschrieben steht:
„MIRU MIR“ – „WELTFRIEDEN“
Es folgt die Mündung der Angara in den Jenissej, auf dem Oberdeck spielt Musik, die Passagiere tanzen.
Jarzewo, Worogowo, Bor und Turuchansk – so schwimmen wir weiter. Pro Tag sehen wir ein bis zwei Dörfer ohne Anlegestelle. Sie schicken kleine Motorboote, um Passagiere, Gepäck und Waren abzuholen und einzuladen.
«Ich erwartete einiges von dieser Reise, aber das Beeindruckendste an ihr blieb am Ende doch, dass wir just in dem Moment von Bord des Dampfers gingen, als in Igarka wieder einmal etwas brannte…»
Viktor Astafjew: „Zar-Fisch“
Und auch als die „Tschkalow“ am frühen Morgen Igarka erreicht, steht eine dunkle Rauchwolke über dem Städtchen. Einheimische erzählen: Jedes Jahr, am Vorabend der Ankunft des ersten Schiffes, brennt in Igarka ein Holzhaus ab.
1929 gegründet, war Igarka 1931 die erste Industriestadt im Norden des Krasnojarsker Gebietes (Dudinka entstand 1951, Norilsk 1953). 1939 erreichte die Einwohnerzahl bereits ihr Maximum, 23.000 Menschen lebten damals hier. Nach dem Zerfall der Sowjetunion wurden alle vier Holzverarbeitenden Fabriken geschlossen sowie die nördlichste Milchprodukte-Produktion. Bis zum heutigen Tag schrumpfte Igarka auf unter 5000 Einwohner.
Aufgebaut haben die Stadt vor allem Gefangene, die ab 1947 auch mit dem „Bauprojekt Nr. 503“ beschäftigt waren. Damals wurde an der Magistrale einer Transpolareisenbahn von Salechard nach Igarka gebaut. Nach Stalins Tod 1953 stellte sich die Frage: Abschluss des „Bauprojektes Nr. 503“ für 800 Millionen Rubel oder Abbau für 700 Millionen Rubel? Man entschied sich gar nicht, der Bau blieb wörtlich liegen. Teile und Dokumente der sogenannten „Toten Strecke“ befinden sich auch im städtischen „Permafrostmuseum“. Dessen Hauptthema allerding ist der Boden.
Mit 67° nördlicher Breite liegt Igarka nördlich des Polarkreises und gehört zur Permafrostzone. Alle Gebäude der Stadt stehen auf Stelzen. Früher waren diese aus Holz, heute sind sie aus Beton. Die Stelzen stehen bis zu vier Meter im felsigen Untergrund, das Haus selbst beginnt erst einen Meter über der Erde.
Das „Permafrostmuseum“ arbeitet auch mit der ansässigen „Permafroststation“ zusammen, die bereits in der Bauzeit Igarkas gegründet wurde, um zu Bautechnologien unter rauen Klimabedingungen zu forschen. Heute ist das Geo-Kriologische Laboratorium eine Filiale des Jakutsker Melnikow-Instituts für Permafrostforschung.
In den Kellerräumen des Museums müssen sich die Besucher dann auch wirklich warm anziehen: Im Innern des Permafrostbodens herrschen sogar im Sommer Temperaturen um -5°C. Entlang der Eiskorridore sind Exponate ausgestellt: verschiedene Sorten von Eis, Schnee, Frost und eingefrorenem Holz. Außerdem säumen auch Schülerarbeiten die Gänge. Eine Galerie aus Eisbildern mit Blüten und Beeren haben die Kinder erstellt und dabei ihre Erde besser kennengelernt.
Heute muss ein Großteil der Lebensmittel muss nach Igarka angeliefert werden – vom „Mutterland“, wie die Anwohner sagen, als lebten sie hier auf einer Insel. Selbst der kurze, heiße Sommer macht ihnen das Leben zwischen den langen, dunklen Wintern nicht viel leichter. Jedes zweite Jahr wird den Arbeitern und Angestellten eine Urlaubsreise vom Arbeitgeber bezahlt. Aber die Orte, die die Menschen gern sehen würden, sind weit weg. So fahren viele einfach zu Verwandten in die südlicheren sibirischen Großstädte Nowosibirsk, Tschita oder Krasnojarsk, andere fahren nach Thailand, China oder den russischen Süden. In jedem Falle aber müssen sie lange fahren, tagelang.
Seit dem Jahr 2000 gelten für die Igarkaer gleich mehrere Nord-Süd-Umsiedlungsprogramme. Den Arbeitsfähigen werden Arbeitsplätze und Wohnungen entweder in Igarka selbst oder im Süden des Gebietes, z.B. in Krasnojarsk, vermittelt. Rentnern, die im Norden gearbeitet haben, ist Unterstützung zugesagt. Für diese Programme steht eine Vielzahl von Mitteln aus föderalen und regionalen Töpfen zur Verfügung. Aber ganz so einfach ist es nicht, die gewohnte Heimat zu verlassen.
„Bei uns gibt es keine Straßen, bei uns gibt es Richtungen!“, so warnte mich bereits mein Kajütennachbar Jewgenij auf dem Schiff scherzend vor, als er erfahren hatte, dass ich nach Igarka will. Vom Mikrorajon aus, wo sich die Forschungsstation, ein Hotel, Schule, Geschäfte, Ehrenmal, Zeitungs- und Fernsehredaktion und einige Wohnblöcke befinden, geht es über einen riesigen Platz in Richtung Nordrajon und ehemaliger „Altstadt“. Hinter den neunetagigen Backsteinblöcken stehen noch wenige Holzhäuser. Ein paar Meter weiter – der Igarkaer „Langzeitbau“, die Baustelle eines Wohnkomplexes, der in den 90er Jahren begonnen, aber nie fertiggestellt wurde. Weiter folgen das Krankenhaus, die Poliklinik, die Kirche und Lenin. Um ihn herum ist es leer, nur das verfallene Gebäude eines ehemaligen Kinos ist zu sehen.
„Dort, an der nächsten Kreuzung, da stand früher eine Reihe Holzhäuser, solche traditionellen, für vier Familien. Dort wurde ich geboren und wohnte da bis ich sieben Jahre alt war“, erzählt Swetlana Kasakowa. Sie arbeitet als Buchhalterin in der städtischen Poliklinik. „Ein paar Jahre, nachdem wir in den Mikrorajon umgezogen waren, brannte das Haus ab, wie die meisten der Altstadthäuser.“ „Wir können uns noch gut erinnern, wie es hier früher war“, ergänzt ihr Mann Anatolij Kasakow, Mitarbeiter bei Rostelekom, „hölzerne Straßen, überall Häuser, Menschen, Theater und Kino.“ Beide sind geborene Igartschane, wie die Einwohner der Kleinstadt auf Russisch heißen.
Am anderen Ende der früheren Altstadt steht das riesige ehemalige „Kulturhauses der Waldarbeiter“. Dort gab es Theateraufführungen, Konzerte, Feste. Unser Fahrer Nikolaj erinnert sich: „Silvester war immer am lustigsten. Die ganze Stadt kam hierher, zum Feiertag mit Weihnachtsbaum und Väterchen Frost. Das letzte Mal, glaube ich, war das 1994. Seitdem steht das Gebäude leer, einige Male brannte es.“
Der wohl berühmteste Einwohner Igarkas ist Viktor Astafjew. Ihm zu Ehren haben Lehrer und Schüler der gleichnamigen Astafjew-Schule Nr.1 sogar ein eigenes Schulmuseum eingerichtet.
Astafjev kam 1935 noch als Kind mit seinem Vater Petr Astafjew und der Stiefmutter in die neue Stadt im Norden. Als der Vater später ins Krankenhaus kommt, wendet sich die Stieffamilie von dem Jungen ab. Niemand wollte ihn, er trieb sich herum und kam nach einigen Monaten ins Kinderheim.
„Diebstahl“, „Letzter Kniefall“ und „Zar-Fisch“ – in diesen Erzählungen verarbeitete er auch seine Erinnerungen an Igarka. Besonders den „Diebstahl“ lesen die Lehrerin Tatjana Sabrygina und ihre Schüler mit Begeisterung und großem Interesse.
Astafjew besuchte einige Male Igarka. Sabrygina erinnert sich: „Obwohl er nur wenige Jahre in Igarka lebte, war ihm unsere Stadt nicht gleichgültig. Er spazierte die Straßen entlang, manchmal mit Tränen in den Augen. Aber jedes Mal bewunderte es aufs Neue, wie modern die Stadt doch geworden sei.“
Zuletzt hatte der Schriftsteller Igarka 1999 besucht, gemeinsam mit einem Filmteam aus St. Petersburg. Sie drehten den Film „Alles zu seiner Zeit. Mit Viktor Astafjew auf dem Jenissej“. Den fertigen Film sollte der Autor nicht mehr sehen, denn er starb 2001.
Die Jugend zieht weg. Es gibt keine Ausbildungsplätze, keine Arbeit. Seit 2008 hoffte die Bevölkerung Igarkas auf die neuen Wankowsker Erdgas- und -Ölstation in der Nähe, der städtische Flughafen wurde dafür extra renoviert. Aber zum Leben zog niemand in den Norden, die Arbeit auf der Station wird im Schichtsystem organisiert.
„Zuerst hat man uns versprochen, dass neue Arbeiter wegen des Erdöls hierher ziehen werden. Und jetzt? Kein einziger kam!“, beschwerte sich schon „Tante Katja“ auf dem Schiff.
Die Kasakows haben zwar gute Jobs, aber auch sie wollen früher oder später in den Süden ziehen. Ihr älterer Sohn studiert bereits in Krasnojarsk. Sobald der jüngere Maxim die Schule beendet, ziehen sie wahrscheinlich mit der ganzen Familie nach Krasnojarsk.
«Womit zieht diese fast tote Erde Lebendiges an? Vielleicht entstand alles Lebendige, und auch dieses kleine, ferne Städtchen, nach einem festen, weisen Gesetz des Lebens. Nicht nach dem Zufall, sondern wirklich nach dem Gesetz. Hier muss eine Stadt sein.»
Viktor Astafjew: „Diebstahl“
Dieser Text erschien im russischen Original auf Sibir i Totschka.
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