Stellen Sie sich vor: Da wird in den 1870er Jahren in der Familie gebildeter polnischer Aristokraten mit acht Kindern noch ein kleiner Junge geboren. Sie leben zusammen in einem kleinen Dorf. Der Kleine liebt all seine Verwandten und glaubt inständig an Gott, will sogar ein katholischer Priester werden. Was denken Sie, wie wird sein Leben weiter verlaufen?
Es ist jener kleine katholische Junge, der später zu einem der unbarmherzigsten atheistischen Revolutionäre und Henker unzähliger Menschen werden sollte. Sein Name ist Felix Dserschinskij. Und Jahrzehnte später, in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts, er schreibt in einem Brief an seine Schwester: „Für viele gibt es keinen schrecklicheren Namen als den meinen.“
1895 schloss sich der junge Dserschinskij einer Gruppe von Marxisten an. Seine polnische Heimat war damals Teil des russischen Zarenreiches. Wegen des Verdachts auf revolutionäre Aktivitäten wurde er der Schule verwiesen. Daraufhin begann für ihn ein langer Kampf gegen das System.
Als Mitglied der Russischen Sozialdemokratischen Arbeiterpartei musste er später elf Jahre im Gefängnis und Exil verbringen. Erst nach der Februarrevolution 1917 wurde er entlassen. Sofort schloss er sich den Bolschewiki an, die dann im Oktober die Macht in Russland übernahmen.
Lenin höchstpersönlich lobte Dserschinskijs „eisernen Willen“ und Fähigkeiten. am 20. Dezember 1917 wurde er darum zum Direktor des neu gegründeten Inlandgeheimdienstes bestimmt, der Allsowjetischen Außerordentlichen Kommission zum Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage, kurz Tscheka. Diese Organisation war der Vorläufer aller späteren sowjetischen Geheimdienste: OGPU, NKWD, KGB sowie des russischen FSB.
Die ersten fünf Jahre der Bolschewisten-Herrschaft, 1917 bis 1922, waren hart. im Land herrschte ein wilder Bürgerkrieg der der anti-kommunistischen Anhänger der Monarchie. Der junge kommunistische Staat musste gegen diese kämpfen und sich durchsetzen. Die Tscheka wurde darum mit der Aufgabe betraut, jede Stärkung konterrevolutionärer Kräfte zu unterbinden. Dazu erhielten die Tschekisten nahezu unbegrenzte Macht. Sie konnten praktisch jeden festnehmen und hinrichten. Dabei mussten sie sich nur auf die Urteile ihrer eigenen sehr kurzen „Revolutionsgerichte“ stützen.
Als Chef dieses Repressionssystems trat Dserschinskij brutal auf. „Festgenommene Verschwörer müssen so schnell wie möglich hingerichtet werden“, schrieb er einst einem seiner Untergebenen in der Ukraine. „Macht euch nicht so viel Arbeit mit den Prozessen. Erschießt sie.“ Gleichzeitig aber finden sich in seinen schriftlichen Anweisungen aber auch Aufrufe dazu, nicht zu exzessiv vorzugehen und nur diejenigen zu inhaftieren, deren Schuld zweifellos festgestellt werden konnte.
Kalt und gefasst diente Dserschinskij seiner Regierung und stellte jeden Hinrichtungsbefehl in der vollen Überzeugung aus, auf der richtigen Seite zu sein. Er galt im Alltag als Asket. Mit seinem langen, spitzen Gesicht wirkte er wie ein Kreuzritter, der sich ganz seiner Mission unterwirft.
Dserschinskijs bolschewistischer Weggefährte und späterer Staatsführer der Sowjetunion Josef Stalin bezeichnete Dserschinskij nach dessen Tod im Jahr 1926 als einen „unterwürfigen Ritter des Proletariats“. noch berühmter als dieses Zitat wurde jedoch der Spitzname „Eiserner Felix“.
Die Historiker straiten sich bis heute um die Zahlen: Wie viele Menschenleben hat der „Rote Terror“ der Tscheka in der Bürgerkriegszeit wirklich gekostet? Die Angaben variieren von 50.000 bis zu einer Million Opfer, jeweils abhängig von der jeweiligen Methode, die zur Berechnung gewählt wurde.
Es ist kaum verwunderlich, dass der erste Tscheka-Chef Dserschinskij sich in jener Zeit eine grausame Reputation erarbeitet hat, an die sich bis heute wenigstens der liberalere Teil der russischen Gesellschaft erinnert. Der Journalist und Historiker Leinid Mletschin schreibt beispielsweise in seinem Artikel über den „Eisernen Felix“: „Er sah sich selbst als von jeder moralischen Norm befreit“. Laut Mletschin war es Dserschinskij, der eben jenes Gewaltsystem begründete, auf dessen Grundlage Stalin in den 30ern dann seine brutalen Repressionen verwirklichen könnte.
Gleichzeitig argumentieren diejenigen, die die Persönlichkeit Dserschinskij in der russischen Geschichte unterstützen, aus einer anderen Perspektive: Die sowjetische Geheimpolizei habe nicht nur Menschen verfolgt, sondern auch die Gesellschaft im Ganzen geschützt. So bezeichnete der Historiker und ehemalige FSB-Offizier Alexander Sdanowitsch den sowjetischen Geheimdienst, den Dserschinskij einst gründete, als „einen der mächtigsten des 20. Jahrhunderts“. „Es wäre völlig kontraproduktiv, das Porträt dieses außergewöhnlichen Mannes (Dserschinskijs – Anm. d. Red.) nur in Schwarz zu malen.“
Außerdem habe Dserschinskij in den Jahren 1924 bis 1926 auch sein Talent als Wirtschaftsexperte gezeigt und der Regierungselite auch noch ein System für Waisenhäuser und Kinderkommunen vorgelegt, welches das Problem der obdachlosen Waisenkinder nach dem Bürgerkrieg lösen sollte. In einem Brief erklärt Dserschinskij seine Motivation: „Ich liebe Kinder wie niemand anderen in der Welt.“
Fall des Dserschinskij-Denkmals am 22. August 1991 auf dem moskauer Lubjanka-Platz
AFPSo kontrovers es noch vor 90 Jahren erschien, so umstritten sind die Person Dserschinskij und sein historisches Erbe noch heute. 1991, kurz vor dem endgültigen Zerfall der Sowjetunion, entfernte die Moskauer Stadtregierung das Dserschinskij-Denkmal aus dem Jahr 1958 auf dem Lubjanka-Platz direkt vor dem Hauptquartier des KGB (heute FSB). Dies galt als einzige mögliche vorbeugende Maßnahme, bevor Demonstranten das Denkmal des Symbol der russischen Geheimdienste zerstören. heute aber werden wieder Stimmen laut, die den „Eisernen Felix“ gerne wieder vor der berüchtigten Lubjanka sehen wollen. So sprachen sich 2015 in einer Umfrage des Levada-Zentrums ganze 49 Prozent der Befragten für eine Rückkehr des Dserschinskij-Denkmals auf den Lubjanka-Platz aus. Die Behörden haben darauf (bislang?) nicht reagiert.
Überall in Russland gibt es darum bis heute Dserschinskij-Plätze und Straßen. Und in Moskau steht er außerdem im Skulpturenpark Museon in einer Reihe mit weiteren ehemaligen kommunistischen Führungspersonen. Jeder, der das möchte, kann ihn hier „treffen“, den „Ritter des Proletariats“: so groß und finster und kalt, wie er es schon zu Lebzeiten gewesen sein muss.
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