Swetlanas Kopf wird fest von bestickten Tüchern umhüllt und es ist unklar, welche Farbe ihre Haare haben – rot, das für viele als „Zeichen einer echten Udmurtin“ gilt, oder dunkelbraun.
„Um zu erfahren, welche Haarfarbe eine Frau hat, muss man woanders hinschauen, als auf den Kopf“, lacht sie. Ihr Lachen verwandelt sich in der kalten Winterluft in Dampf. „Wir leben in einer trügerischen Zeit. Sogar Haare können trügerisch sein.“
Auch ihr Name ist teils trügerisch. Eigentlich heißt sie nicht Swetlana, sondern Pusteblume. So wurde sie genannt, bevor die Udmurten dazu verpflichtet wurden, sich einen Pass zu besorgen und „normale“ Namen anzunehmen. Zuvor hatten sie nur vorchristliche Namen benutzt, die in der udmurtischen Sprache Tiere, Vögel und Pflanzen bezeichnen.
Swetlana
Dmitry ErmakovZudem gehört Swetlana-Pusteblume einer heidnischen Religion an. Wir befinden uns an der heiligen Kuala-Hütte, die wie eine gewöhnliche russische Balkenhütte aussieht.
„Die Udmurten sind Polytheisten. Den Grundstein des Glauben bildet die Natur, und dort gibt es viele Götter.“
Im Innern der Hütte ist es dunkel, eng und warm. Es liegen rituelle Gegenstände aus, zum Beispiel Schalen für Opferdarbringungen und Tücher aus den 1930er-Jahren. Das alles sind Ausstellungsstücke des Naturschutzgebiet-Museums Ludorwaj, das sich in der Republik Udmurtien 1 270 Kilometer östlich von Moskau befindet und in dem Swetlana-Pusteblume als leitende wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig ist. Hier, im Mittelural, ein paar Kilometer vom Naturschutzgebiet entfernt, liegt das gleichnamige udmurtische Dorf Ludowraj.
Kuala-Hütte
Dmitry ErmakovDer Großteil der Udmurten, im Norden und im Süden, lebt, wie bereits schon vor Hunderten von Jahren, entlang der Flüsse Kama und Wjatka in der udmurtischen Republik. Im Jahr 2010, in dem in ganz Russland eine Volkszählung durchgeführt wurde, wurden insgesamt 552 000 Udmurten gezählt. Im 17. Jahrhundert verlief durch den Norden der Republik der Sibirische Trakt – eine alte binnenländische Handelsstraße, die vom europäischen Teil des Russischen Imperiums bis zur Grenze Chinas führte. In vielerlei Hinsicht gelten die Udmurten aus dem Norden auch deshalb als „russischer“ als die Udmurten aus dem Süden. Das ist der erste Unterschied.
Der zweite Unterschied ist das Aussehen. Im Süden haben die Udmurten rote Haare und blaue Augen, im Norden sind sie dunkelhaarig und haben dunkle Augen. Der dritte Unterschied soll in ihrem Charakter liegen: Udmurten aus dem Süden gelten als aufgeschlossen, die aus dem Norden als reserviert. Der vierte Unterschied ist der Glaube. Ungeachtet der Tatsache, dass der Großteil der Udmurten im 18. Jahrhundert zum russisch-orthodoxen Christentum übergetreten ist, gibt es im Süden viel mehr heidnische Dörfer als im russifizierten, christlichen Norden.
„Unser Volk ist nicht rebellisch oder kategorisch. Im Innere kann es manchmal viel Empörung geben, aber daraus wird kein offener Aufstand entstehen. Sie schlucken alles runter nach dem Prinzip: „Hauptsache, sie rühren uns nicht an.“ Alles wird schweigend hingenommen.“
Ungefähr so kamen die Udmurten am Ende des 15. Jahrhunderts auch zu Russland. Einen eigenen Staat hatten sie nie: Das Volk lebte in kleinen Siedlungen und hatten keine staatlichen Ambitionen.
„Ein Udmurte zu sein, heißt ein begrenzter, nicht allzu kluger Mensch zu sein“, erklärt Nikita, ein Einwohner der udmurtischen Hauptstadt Ischewsk. Man hört das Gedankengut der sowjetischen Vergangenheit heraus, als Udmurtien zu einem der wichtigsten Industriegebiete des Landes, und die Udmurten, als ungebildete Menschen vom Dorf, zum Synonym für Schwarzarbeiter wurden.
„Heute wird offen über Herkunft gesprochen, früher jedoch hätten Sie auf jeden Fall zu hören bekommen: „Was für ein Udmurte bin ich denn, ich bin doch Russe“. Auch, weil im Pass „Russe“ geschrieben stand. Als die Udmurten die ersten Ausweise bekamen, das geschah erst in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre, trug man bei Staatsangehörigkeit „russisch“ ein.“
„Udmurten sind an sich sehr bescheidene Menschen. Sie drängen niemandem etwas auf, schon allein aufgrund ihrer Mentalität“, merkt Nadja an, die in den letzten 15 Jahren Touristengruppen durch Udmurtien fährt und ihnen das ethnische Lokalkolorit zeigt. Durch ihn hofft die Republik, Touristen in die Region zu locken.
Es gibt aber auch die Auslegung, dass diese „Bescheidenheit“ etwas mit Scham über die eigene Herkunft zu tun habe. Erst heute findet der Nationalstolz langsam auch offenen Ausdruck. So seltsam es klingen mag, geschieht dies durch Comics. Die Bücher in udmurtischer Sprache sind sozusagen ein neuer Trend der Republik.
Die einzige Möglichkeit, Geld zu verdienen, bietet mittlerweile nur noch die Arbeit in der Stadt. Im Dorf Ludorwaj gibt es Gas, eine Schule und eine Bibliothek, aber es gibt zum Beispiel keinen Lebensmittelladen, kein Krankenhaus oder zumindest eine Apotheke. „Aus diesem Grund backen sie sogar ihr eigenes Brot“, erzählt Anna, eine ältere Dorfbewohnerin.
70 Prozent ihres Heimatdorfes Karamas-Peljga gehörte im Jahr 1960 dem heidnischen Glauben an. Dann wurde sie mit einem unbekannten Mann verheiratet und er nahm sie mit nach Ludorwaj.
„Ich kannte meinen Mann nicht. Ich hatte ihn nur ein paar Mal gesehen, hätte nie gedacht, dass ich ihn mal heiraten würde. Aber so wurde früher entschieden.“
In Ludorwaj leben heute etwas mehr als 1 000 Menschen. Bis zur nächsten Stadt, Ischewsk, sind es 19 Kilometer. Anna arbeitet zusammen mit Swetlana-Pusteblume im Museum, früher gingen sie jeden Tag drei Kilometer zu Fuß, bei jedem Wetter. Jetzt fährt sie jedoch ein kleiner Bus dorthin.
„Alle Bewohner von Ludorwaj arbeiteten in den Fabriken von Ischewsk, und hier im Dorf gab es riesige Felder, einen Kolchos (ein landwirtschaftlicher Großbetrieb in der Sowjetunion, Anm. d. Red). Heute gibt es den Kolchos nicht mehr, nur private landwirtschaftliche Betriebe. Die Arbeit geht voran, aber es gibt zu wenige Arbeiter. Und die Jungen ziehen weg. Kommen, wenn überhaupt, nur am Wochenende, um ihre Eltern besuchen. Es gibt hier ja auch wirklich gar nichts zu tun.“
Anna
Dmitry ErmakovDer Großteil der heutigen Udmurten hat den Stereotyp, „ungebildet zu sein“, überwunden und arbeitet, wie schon vor fünfzig Jahren, in Fabriken. Das friedfertigste Volk stellt jedoch, wie es der Zufall so will, Waffen her: An der Herstellung dieses Produkts ist die Hälfte der Fabriken in Ischewsk beteiligt, darunter auch der Konzern Kalaschnikow. Dort erinnert man sich immer noch an die Karikatur der „New York Times“ aus dem Jahr 1993: Ein mit Waffen übersätes Udmurtien und die Unterschrift, dass, im Falle einer Teilung von Russland, die Republik noch drei Jahre lang alleine mit der ganzen Welt Krieg führen könne.
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In der udmurtischen Hauptstadt Ischewsk werden die weltbekannten Sturmgewehre der Firma Kalaschnikow, die Bulawa-Rakete sowie die Interkontinentalrakete Topol-M hergestellt. Russia Beyond hat sich das vor Ort mal angesehen.
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