Russlands deutsche Meister – Teil 1: Die Klassiker

Deutsche Unternehmer investieren traditionell so viel in Fabriken und Montagehallen in Russland wie Firmen aus keinem anderen Land der Erde. Ende des 19. Jahrhunderts waren 207 von 378 ausländischen Industrieunternehmen in Russland in der Hand von Deutschen. Wie das heute aussieht, präsentiert ein neues Buchprojekt der Deutsch-Russischen Auslandshandelskammer. Russia Beyond veröffentlicht Auszüge.

Siemens: Von Schwälbchen, Wanderfalken und deutschem Erfindergeist in Russland

Siemens: Im Lokführerraums des

Als 1851 die erste Bahnverbindung zwischen Sankt Petersburg und Moskau eröffnete, bastelte ein Mann namens Siemens schon an der nächsten technologischen Revolution in Russland: Werner von Siemens half mit 75 Telegrafen dabei, sekundenschnell Nachrichten zwischen den beiden Metropolen des Zarenreichs auszutauschen.

Der Beitrag von Siemens zur Entwicklung Russlands ist heute vor allem auf der Schiene unübersehbar, wo hochmoderne Züge des Unternehmens unterwegs sind. Doch wer weiß schon, dass mithilfe von Siemens-Elektromotoren auch etwa ein Drittel des russischen Erdöls durch Pipelines bewegt wird? Dass seine Ingenieure mehr als zweitausend hiesige Fabriken automatisiert haben und seine Technologie bei mehr als einer Million im Land produzierten Autos Geburtshelfer war?

Werner von Siemens wagte den Schritt nach Russland, sein Bruder Carl sollte dort seine zweite Heimat finden. Er nahm die Staatsbürgerschaft des Zarenreichs an und wurde für seine Verdienste um die russische Industrie in den erblichen Adelsstand erhoben. Die Männer an der Spitze von Siemens betrachteten Russland nie nur als Kunde.

1847 gründete Werner von Siemens mit Partner Johann Halske seine Firma. Doch schon nach wenigen Jahren kriselte das Geschäft, weil es zu einem Zerwürfnis mit dem damaligen Hauptauftraggeber, der preußischen Telegrafenverwaltung, gekommen war. Von Siemens suchte Alternativen im Ausland und wurde nach ersten Anläufen in London und Paris in St. Petersburg fündig.

Siemens: Der russische Hochgeschwindigkeitszug Sapsan im Werk

Zwischenzeitlich erwirtschaftete die junge Firma fast neunzig Prozent ihres Umsatzes in Russland. Langfristige Wartungsverträge für die Telegrafenverbindungen garantierten stetige Einnahmen, die für die Entwicklung des Unternehmens insgesamt ein Segen sein sollten. Carl von Siemens wurde Leiter der russischen Niederlassung, die 1853 in Sankt Petersburg eröffnete. Heute ist Siemens das „Weltgeschäft“, von dem sein Gründer einst träumte. Obwohl Siemens auch anderswo gute Geschäfte macht, bleibt Russland wichtig: „Das Land ist für uns ein großer Markt und von strategischer Bedeutung“, sagt Dietrich Möller, der seit mehr als einem Jahrzehnt Präsident von Siemens in Russland ist.

Und in der einstigen Wiege Sankt Petersburg baut heute unter anderem der  Elektroinstallateur Alexander Belous Umrichter für Elektrozüge zusammen, schrankgroße Metallkästen, voll mit Technik. Andere vom Unternehmen Siemens Elektroprivod produzierte Umrichter geben zum Beispiel großen Bohrmaschinen Strom. Auch Elektromotoren fertigt Siemens hier selbst, allen voran für seine russischen Schnellzüge.

In Woronesch eröffnete Siemens im Jahr 2012 eine Fabrik für Transformatoren. Sie werden nicht nur in mobilen Umspannwerken und Lokomotiven, sondern auch als Komponenten für Stromnetze eingesetzt. Im Bild:  Vorbereitung zum Testen der Ausrüstung unter Hochspannung.

Mittlerweile hat Siemens in Russland tausende Arbeitsplätze geschaffen und erreichte in den besten Jahren einen Umsatz von mehr als zwei Milliarden Euro. Es baute in Sankt Petersburg eine Fabrik für Gasturbinen und startete in Woronesch die Produktion von Transformatoren. Unweit der Ural-Hauptstadt Jekaterinburg gründete Siemens mit seinem russischen Partner Sinara Group das Joint Venture Ural Locomotives. Hierentstehen im Auftrag der russischen Eisenbahngesellschaft RZD Güterzug-Lokomotiven sowie Schnellzüge der Baureihe Desiro RUS. Dazu werden Drehgestelle montiert, Wagenkästen zusammengeschweißt und lackiert.

Von Russlands Schienen sind sie nicht mehr wegzudenken. Unter dem Namen Lastotschka, auf Deutsch „Schwälbchen“, sind die roten Triebwagen zum Inbegriff des schnellen Regionalverkehrs sowie des neuen S-Bahn-Rings Moskaus geworden. Der Superstar unter den russischen Zügen ist jedoch der russische Bruder des ICE: Der Sapsan, „Wanderfalke“ ist aber noch nicht „Made in Russia“. Siemens lieferte zunächst sechzehn Züge aus seinem Werk in Krefeld. Aber die beiden Siemens-„Vögel“ sind dabei, auf Dauer in Russland heimisch zu werden.

Volkswagen: Ein deutscher Motor für den russischen Fortschritt

Volkswagen: Deutsche Produktion mit russischen Komponenten in Kaluga.

Dass Autofahrer in Russland die gleichen Erlebnisse haben können wie in Deutschland oder den USA, ist nicht zuletzt ausländischen Herstellern wie Volkswagen zu verdanken. Der größte Autobauer Europas ist in Russland stark vertreten: mit seinen Premium- und Luxusmarken Audi, Porsche, Bentley und Lamborghini, den weltweiten Verkaufsschlagern von Škoda und VW. In Sankt Petersburg stellen die beiden zum Konzern gehörigen Marken MAN und Scania Schwertransporter her. Die russische Tochtergesellschaft Volkswagen Group Rus beschäftigt 5600 Mitarbeiter und zählt zu den größten Unternehmen der russischen Automobilindustrie.

Russland ist einer der vielversprechendsten Automärkte. Seit 1990 stieg in knapp drei Jahrzehnten die Zahl der Pkw pro tausend Einwohner von sechzig auf dreihundert. In Ländern wie Deutschland ist sie jedoch doppelt so hoch. Russland mit seinen 140 Millionen Bürgern hat noch großen Nachholbedarf bei der Motorisierung. Millionen Russen dürften in den kommenden Jahren erstmals ein eigenes Fahrzeug erwerben. Ausländische Produzenten haben das Potential erkannt, allen voran Volkswagen. Der Großkonzern hat bisher mehr als 1,8 Milliarden Euro in Russland investiert.

Schon Anfang der Neunziger weihten die Wolfsburger ihre erste Vertretung in Moskau ein. 2007 eröffneten sie in Kaluga, 170 Kilometer südwestlich von Moskau, ein Montagewerk. Zwei Jahre später startete Volkswagen dort die Vollproduktion, wozu es das Werk um eine Karosseriefertigung und eine Lackiererei erweiterte.

Volkswagen: Deutsche Produktion mit russischen Komponenten in Kaluga.

Dass ausländische Hersteller auf die Produktion in Russland setzen, ist auch ein Erfolg der russischen Politik. Der Aufschwung seit der Jahrtausendwende hat zu einem Boom auf dem Automarkt geführt. Die wachsende Mittelschicht entschied sich oft für Importfahrzeuge. Bald stammte nur noch die Hälfte der verkauften Autos von heimischen Herstellern. Um die inländische Produktion zu retten, griff die Regierung zu Zuckerbrot und Peitsche. Sie knüpfte Steuerermäßigungen und niedrigere Zölle für Komponenten an die Bedingung, dass die ausländischen Autobauer eine beträchtliche Zahl an Fahrzeugen und Bauteilen im Land produzieren und nicht nur zusammenschrauben. Die Konzerne sollten sich mit ihren modernen Fabriken in Russland ansiedeln und die rückständige Autoindustrie mit ihrem Know-how auf ein neues Niveau heben.

Dieses Ziel hat die Regierung erreicht. Der Marktanteil der im Land produzierten Autos nähert sich neunzig Prozent. Volkswagen leistete dazu einen bedeutenden Beitrag. Die Deutschen erweiterten nicht nur die Fabrik in Kaluga, sie gingen auch eine Partnerschaft mit dem russischen Hersteller GAZ ein. In dessen Hauptwerk in Nischni Nowgorod, vierhundert Kilometer östlich von Moskau, richteten sie zuerst eine Vollproduktion des Škoda Yeti und später des VW Jetta und des Škoda Octavia ein. Volkswagen modernisierte für zweihundert Millionen Euro die Fabrik von GAZ und startete ein Ausbildungsprogramm für dessen Mitarbeiter.

Der russische Automarkt glich zeitweise einer Achterbahn. Nach einem Rekordjahr 2012, als fast 2,8 Millionen Neuwagen verkauft wurden, sahen viele Russland auf dem Weg zum größten europäischen Markt für Pkw. In den folgenden Jahren sind die Absätze bis auf die Hälfte eingebrochen. Wegen der Rezession sanken erstmals seit den Neunzigern die Reallöhne. Die Menschen konnten sich neue Autos nicht mehr leisten. Ab 2017 wuchs der Markt wieder.

Internationale Konzerne wie Volkswagen, die in schwieriger Zeit an ihrem Russlandgeschäft festhielten und es sogar noch ausbauten, sind nun in einer guten Ausgangsposition, um vom Aufschwung zu profitieren. Die Volkswagen Gruppe hat so rund ein Zehntel des russischen Automarkts erobert. Besonders gefragt sind bei den meisten Marken die SUVs, auch weil sie besser auf den oft schlechten russischen Straßen unterwegs sind.

2007 hat Volkswagen seine Fabrik in Kaluga eröffnet und 2009 die Vollproduktion aufgenommen. Ein großer Teil der Komponenten stammt aus Russland. Bevor die Fahrzeuge vom Band rollen, kontrollieren Mitarbeiter sie gründlich.

Insgesamt 35 Unternehmensporträts, Interviews mit den Schlüsselfiguren im deutsch-russischen Geschäftsfeld und vieles mehr können Sie im Sammelband „Die Russland-Meister“ der AHK Russland sowie der dazugehörigen Webseite www.russlandmeister.ru nachlesen.

Hier lesen Sie mehr über die beiden deutschen "Zugpferde" Siemens und Volkswagen in Russland:

>>> Deutsch-Russische Zusammenarbeit in Wissenschaft und Wirtschaft

>>> Siemens in Russland: Glühbirnen für den Zaren

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>>>Deutsche Unternehmen arbeiten mit Russland zusammen

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